1. Einleitung
Über die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat oder nicht, sind sich die Fachleute nicht einig. Ehe ich hier durch meine Worte irgendjemand beeinflusse, möchte ich mir erlauben, Sie, meine Damen und Herren zu fragen, ob Sie persönlich das Gefühl haben, selbst einen freien Willen zu haben. Ich bitte Sie um Ihr Handzeichen, einfach so aus Ihrem bisherigen Gefühl heraus!
Das ist die überwiegende Mehrheit. Ich habe das Gefühl übrigens auch und werde nachher darauf eingehen.
Zunächst sollte ich Sie eigentlich noch unabhängig davon fragen, ob Sie, wenn Sie etwas wollen, für die Entscheidung zu diesem Wollen Gründe haben, ob Sie also üblicher Weise aufgrund gewisser Ursachen etwas wollen, oder ob Sie gelegentlich auch grundlos etwas wollen können. Dafür müssten Sie Zeit zum Nachdenken haben, und die haben wir hier nicht. So prophezeie ich Ihnen einfach, dass Sie - auch wenn Sie lange nachdenken – im realen Leben kaum ein gutes Beispiel dafür finden werden, in dem Sie ohne jegliche Ursache etwas wollen.
Ich halte einfach einmal fest: Wir alle haben das Gefühl, einen freien Willen zu haben. Aber wir meinen, dass wir immer überlegt etwas wollen, also mit guten Gründen. Das ist nicht der freie Wille, den "orthodoxe" Philosophen oder Juristen meinen. Denn die definieren, dass ein Wille dann frei sei, wenn er nicht durch Ursachen bestimmt ist. Nur wenn ihn keine Ursache beeinflusst, sei er wirklich frei.
Wir reden jetzt also über ein schwieriges Problem, dass wenigstens 2 ½ Jahrtausende unglaublich vielseitig diskutiert wurde. Ich will es ganz, ganz verkürzt umreißen.
Der Beginn liegt schon im Götterglauben der Naturvölker, die sich Außerirdische vorstellten, die alles Unerklärliche in der Umwelt bewirken konnten, die also nicht nur große Macht hatten, sondern offenbar in deren Handhabung auch frei waren. Die frühen Menschen stellten aber gleichzeitig fest, dass auch das Denken des Menschen im Gegensatz zu seinem Tun große Freiheiten hat. Da der Mensch Phantastisches und Erhabenes denken konnte, hatte er wenigstens in seinen großen Gedanken auch etwas Göttliches. Und da er prinzipiell auch großes und Unmögliches wollen kann, wurde auch das Wollen als frei erachtet. Daraus ergab sich gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen in der Welt.
Auf diesen Vorstellungen basiert die Philosophie der griechischen Klassik, und auf der wiederum die altehrwürdige Tradition der Denkstrukturen der heutigen Philosophie. Plato, Aristoteles, Kant und viele andere kamen zu dem Ergebnis, dass es einen Dualismus gibt: eine körperliche, "physische" Welt, und irgendwie dazwischen oder darum herum eine geistig-seelische, "metaphysische" Welt, in der es zum Beispiel um den Sinn des Lebens geht.
Hier in der Banalität der Erde, im Bereich des Physischen war dagegen bald klar, dass es keine Wirkung ohne Ursache gibt. Dass alles Geschehen eine Ursache habe, wurde zu einem Credo der Naturwissenschaft. Seit diese sogar das Gehirn untersucht, gilt diese Grundbedingung, also die Kausalität, auch für das Denken, und auch der Wille ist eine Funktion des Gehirns, hat also seine Ursachen.
Die Kausalität bestimmt, also determiniert nicht nur Gegenwart und Zukunft, sondern gilt selbstverständlich auch für die Vergangenheit. Alles, was ich getan habe, hatte Ursachen, und die hatten auch Ursachen und so fort. Diese Determinierung gilt natürlich nicht nur für meine guten Taten, sondern auch für Untaten, sogar für Verbrechen.
Und hier haben wir scheinbar (ich werde das widerlegen) ein praktisches Problem: Jeder Verbrecher könnte vorbringen, ihn träfe keine Schuld, denn sein Handeln sei ja alles vorbestimmt gewesen. Seit jeher geht die Jurisprudenz vom Freiheitspostulat aus, unterstellt also, dass jeder geistig gesunde Mensch einen freien Willen hat. Der Verbrecher hätte auch anders handeln können, wenn er nur gewollt hätte. Dass er aber nicht anders wollte, daraus wird ihm Schuld angerechnet.
Grundsätzlich denken Juristen sehr realistisch. So blieb ihnen nicht verborgen, dass die Naturwissenschaft die Welt, sogar das ganze Universum als geschlossenes System betrachtet, in das nicht einfach von außen her durch einen unabhängigen Willen Energie eingebracht werden, dass also nicht ohne irdische Ursache etwas bewirkt werden kann. Das besagt z.B. der Satz von der Erhaltung der Energie. So einfach hätte der Verbrecher also nicht anders wollen können, als seine Ursachen das determiniert hatten. Wie soll man dann aber eine Strafe rechtfertigen?
Bedeutsam sind die Fragen von freiem Willen und Determinierung auch für die Religion. Die christliche Glaubenslehre basiert auch auf dem Dualismus Leib-Seele: Die metaphysische Seele hat gerade durch den ihr zugehörigen freien Willen die Möglichkeit, sich gegen die Sünde der realen Welt zu entscheiden. In der Scholastik hat man sich dann aber lange über die Konsequenzen des Determinismus gestritten: Wie konnte Gott die Welt so erschaffen, dass die Kausalität gewisse Menschen notwendig zu Verbrechern macht? Der gütige und liebende Gott? Und wie konnte andererseits der Mensch einen eigenen freien Willen haben, wenn Gott selbst allmächtig und allwissend ist? Damit weiß und steuert er doch schon alles, bevor der Mensch seinen angeblich freien Willen einsetzt? – Als Lösung wurde postuliert, dass Gott an den Menschen mit der Seele einen Teil seines freien Willens delegiert hat.
Ich glaube, dass Gott das Problem mit dem Willen anders und eleganter gelöst hat, nämlich rein weltlich. Ich will das Ergebnis meiner Beweisführung vorwegnehmen:
Bei der Diskussion des Determinismus wird fälschlicherweise immer unterstellt, dass jede Wirkung eine Ursache hat (ich betone "eine"). Das ist völlig unrealistisch. Insbesondere alle größeren Probleme, die wir entscheiden, haben immer viele Ursachen, solche, die dafür sprechen, und andere, die dagegen sprechen. Die einen sind schwerwiegend, die anderen eher nebensächlich. Die einen sind für mich vorteilhaft, die anderen können mir schaden. Ich könnte aus der unpersönlichen Maschinerie der Kausalität herauskommen, wenn ich unter den vielen Kausalitäten nur die wirksam werden lasse, die zu meinen Gunsten wirken. Wenn ich mir die günstigen Ursachen heraussuchen könnte (natürlich mit einem gemäß der Kausalität funktionierenden Auswahlmechanismus), käme alles so, wie es mir genehm ist, also so, wie ich es will.
Einen derartigen Auswahlmechanismus für Kausalfaktoren hat die Natur tatsächlich entwickelt. Mehrere sogar, und einige längst vor dem Menschen für die Tiere. Ich will Ihnen die wichtigen erklären.
2. Bewertungssystem
Der portugiesisch-amerikanische Neurowissenschaftler Damasio hat als erster vor etwa 20 Jahren erkannt, dass unser Gehirn alles, was uns näher betrifft, gefühlsmäßig bewertet. Das wird besonders deutlich bei Personen. Denken Sie zum Beispiel an Ihre Nachbarin. Sie wissen sofort, ob Sie sie mögen oder nicht. Eine gefühlsmäßige Bewertung wird automatisch immer mit der Vorstellung von dieser Nachbarin gekoppelt, wird dadurch subjektiv. Es ist fraglich, ob Sie überhaupt objektiv über sie nachdenken könnten.
Falls Sie keine Nachbarin haben sollten, können Sie ja jetzt an jemand anderes denken, einen Verwandten oder eine wichtige öffentliche Persönlichkeit: Angela Merkel, Westerwelle, Seehofer, Ypsilanti – immer wissen Sie sofort, ob Sie sie mögen oder nicht. Damasio spricht von einem emotionalen Marker, der immer angefügt wird. Das ist nicht nur bei Personen so. Nehmen Sie Getränke: Kaffee, Sekt, Bier, Kamillentee: Sie wissen automatisch, was Sie lieber mögen. Oder ganz etwas anderes: Volksmusik, Orgelkonzert, Marschmusik, Rock. Das Gleiche gilt für alle Erinnerungen, für alles, was wir erlebt haben.
Die emotionalen Marker sind Teil unserer Erfahrung. Sie sind enorm wichtig bei der Orientierung in unserer Umwelt. Ihretwegen bevorzugen wir ohne viel Nachdenken das Getränk, das uns bisher gut bekommen ist, mit ihrer Hilfe meiden wir intuitiv die Menschen, die eine Gefahr darstellen könnten. Ohne sie könnten wir nachweislich kaum entscheiden, wenn es um persönlich relevante Fragen geht.
Aber kommen wir zu unserem Thema: Bei Entscheidungen wählen wir wegen dieser emotionalen Bewertung immer die Ursachen in unserer Umwelt, die wir persönlich am liebsten wollen. Unter den vielen Speisen eines Büffets, von denen uns jede satt machen könnte, wählen wir nicht die, die vorne steht und daher am schnellsten erreichbar wäre, sondern die da hinten, die wir am liebsten haben. Für Entscheidungen mit persönlicher Bedeutung wählt unser Gehirn immer die Ursachen, die uns am meisten nützen. Sie entspricht unserem Wollen und gibt uns das Gefühl, die Wahl selbst getroffen zu haben.
Damit haben wir einen Auswählmechanismus für Ursachen. Für die Wahl haben wir Gründe, sie ist nicht völlig frei, aber es ist unsere eigene, persönliche Wahl. Alle Tiere mit einem genügend großen Gehirn machen das auch so. Dadurch unterscheiden sich alle hirnbegabten Tiere und der Mensch von der Passivität eines Steines. Sie liegen nicht auf dem Weg und werden schicksalsmäßig durch gelegentliche Fußtritte bewegt. Sie können sich, wenn man im Bild bleiben will, den geeigneten Tritt mit der gewünschten Stoßrichtung aussuchen.
Von Natur aus, von unseren Genen sind wir alle krasse Egoisten: Wir wollen zuerst immer das, was uns am meisten nützt. Dafür sucht das Gehirn in seinen Speichern mit Hilfe der emotionalen Marker die passenden Argumente.
3. Triebe bzw. angeborene Bedürfnisse
Es gibt einen zweiten sehr alltäglichen Auswahlmechanismus, den wir ebenso wie die Tiere einsetzen: die sogenannten "intrinsischen Motivationen", also die Antriebe, die aus unserem Inneren kommen, genauer aus den tiefen, unbewusst arbeitenden Zentren unseres Gehirns. Beim Menschen spricht man nicht gern von Trieben, sondern von angeborenen Bedürfnissen. Sie treiben uns zu vielerlei mehr oder weniger überlebenswichtigen Tätigkeiten an: zum Essen oder Trinken, zur Sexualität, in die Gesellschaft mit anderen, zur Mitbestimmung, zur Kreativität, evt. zur Dominanz, also zum Führen und Befehlen.
Jeder von uns hat (je nach Forscher) alle 12 oder 20 solcher Bedürfnisse, aber in sehr unterschiedlicher Stärke. Die individuelle Ausprägung formt entscheidend die Persönlichkeit und deren Wünsche. Sie sind nicht ständig alle aktiv, wir haben zum Beispiel nicht ständig Hunger. Aber wenn wir Hunger haben, ist es unser eigenes Bedürfnis. Jeder ist es selbst, der etwas zu essen haben will. Diese Ursachen zum Handeln kommen aus einem selbst. Man selbst ist es, der zum Eisschrank gehen will, frei insofern, als ihn keine äußeren Ursachen zwingen, unfrei allerdings, weil es genügend Ursachen vonseiten des eigenen Körpers, also des Stoffwechsels gibt, die dieses Hungergefühl und damit den Gang zum Einsschrank bedingen.
Es ist das eigene Gehirn, das hier die Ursachen zum Handeln generiert, die gerade für das eigene Überleben oder wenigstens das eigene Wohlbefinden notwendig oder sinnvoll scheinen. Ein Anstoß kann durchaus auch von außen kommen: jemand ärgert uns, und wir reagieren aggressiv, oder jemand ruft, und wir erkennen aufgrund unserer Erfahrung an der Stimme, das wir ihn kennen, mögen, und dass er etwas Erfreuliches mitzuteilen hat. Aber unsere eigene (intrinsische) Motivation wird dann aktiviert, und wir sind es nun, die die uns gemäße Reaktion durchführen. Mechanismen des eigenen Gehirns geben den ganzen Tag immer wieder die Richtung unserer Aktivitäten vor. Mit Recht haben wir das Gefühl, das alles aus uns selbst heraus und damit frei zu wollen. Entsprechend haben Sie, meine Damen und Herren, eingangs dargetan, dass Sie das Gefühl haben, aus freiem Willen handeln zu können.
Das geschieht dann wohl frei von äußeren Einflüssen oder gar von Zwang, aber nicht frei von Ursachen. Die liegen in diesem Fall in den Funktionen des Zwischenhirns.
Wie der Name schon sagt, sind die angeborenen Bedürfnisse in unseren Genen vorprogrammiert, dienen also der Erhaltung des eigenen Organismus und der Art. Sie produzieren oder verstärken Ursachen für unser Handeln, die ganz gezielt dem persönlichen Vorteil dienen. Wieder ist es ein Mechanismus zur Modifikation der Kausalität zu unseren Gunsten, also ein klar egoistisches Prinzip.
4. Die Rolle des Verstandes
Sie werden jetzt protestieren wollen wegen der Unterstellung ausschließlich egoistischen Reagierens und Wollens. So beeile ich mich, eine dritte Möglichkeit der Manipulation, ja sogar der Komposition von Ursachen zu schildern. Dritter Akteur ist nach (1) emotionaler Bewertung und (2) Motivation nun (3) der Verstand. Der kann ebenfalls sehr egoistische Handlungen veranlassen, wie Sie alle wissen, aber auch eindeutig altruistische, und darin liegt eine der großen Herausforderungen für das menschliche Gehirn.
Aber der Reihe nach: Wir hatten uns klargemacht, dass die Gedanken auffallend frei sind. Genau genommen denken wir allerdings immer aufgrund gewisser Erinnerungen, Assoziationen oder sonstiger Anstöße, also auch aufgrund von Ursachen. Aber wir können dann die Denkrichtung, den Verlauf der gedanklichen Argumentationen, der virtuellen Bilder und erdachten Handlungen sehr flexibel variieren. Wir können uns vorstellen, dass wir uns am nächsten Tag Schuhe kaufen wollen, einfach weil wir gerade mal Zeit haben, also ohne zwingenden Grund. Diesen Gedanken speichern wir im Gehirn ab.
Der Gedanke ist jetzt Teil des Gedächtnisses, aus dem wir die vielen Ursachen für unser Denken und/oder Handeln beziehen. Am Abend können wir ihn nochmal erinnern, auch am nächsten Morgen. Und da ist dieser Gedanke, den wir am Vortag komponiert haben, zur Hauptursache für die Tätigkeit am Vormittag geworden. Es mag reichlich Ursachen auch für andere Aktivitäten geben. Aber wir selbst wollen jetzt – wohlgemerkt ohne äußeren Zwang – Schuhe kaufen gehen.
Es sind nicht die Gedanken allein, die jetzt unser Tun bestimmen. Wir hatten ihnen schon am Vortag den emotionalen Marker angefügt: "Das ist mir wichtig, und da freue ich mich schon drauf". Er hilft bei der Hintanstellung anderer Ursachen. Und die freudige Erwartung mobilisiert nun auch eine kräftige Motivation: vielleicht das angeborene Bedürfnis nach Besitzerwerb oder nach Herausputzen der eigenen Erscheinung oder das der Neugier darauf, welche Auswahl wohl im Angebot ist. Das Gehirn setzt also alle Hilfsmechanismen ein, um das selbst formulierte Ziel auch zu erreichen. Natürlich haben wir jetzt das Gefühl, dass das unser freier Wille ist. Wenn wir genauer nachdenken, hatte er Ursachen. Aber er ist unser eigener Wille.
5. Altruismus
Wir hätten am Vortag auch überlegen können, dass wir den freien Tag dazu benutzen wollen, endlich mal den kranken Kollegen zu besuchen und ihm mit einem Geschenk eine Freude zu machen. Wenn wir Zeit und Geld für uns verwenden würden, wäre das natürlich wirtschaftlicher. Aber wenn wir Freizeit und Geld stattdessen für den leidenden Kranken einsetzen würden, wäre das eine gute Tat, wäre altruistisch. Nehmen wir an, wir hätten uns für den Krankenbesuch entschieden, hätten den Gedanken also mit einem positiven emotionalen Marker gekoppelt und so abgespeichert. Am nächsten Morgen wäre dann die gute Tat die Hauptursache für unser Handeln. Es wäre unser wichtigster eigener Wille, gegen den persönlichen Vorteil zu handeln. Der Verstand ermöglicht also Altruismus. Dadurch unterscheiden wir uns nicht nur von einem Stein, sondern auch von den Tieren.
Nun haben Sie es schon gelernt: Es ist ein eigener, aber kein freier Wille. Wir hatten am Vortag Ursachen für die Vorstellung einer guten Tat abgewogen. Da mag nun die Überlegung eine Rolle gespielt haben, dass der Kollege sich später einmal revanchieren wird, wenn er wieder gesund ist. Vielleicht wird er mir helfen, wenn ich dann in Not bin, vielleicht erzählt er meine gute Tat anderen und ich profitiere dann von einem besseren Image. Dann wäre es also doch kein altruistischer, sondern ein berechnend egoistischer Wille gewesen.
Wer böswillig ist, kann jede gute Tat als Berechnung umdeuten, selbst wenn als verborgenes Motiv für die Hilfeleistung ein späterer Gotteslohn im Jenseits erhofft wird. Wer sehr kritisch und spitzfindig denkt, lässt vielleicht nichts als völlig selbstlose Tat gelten. Ich meine demgegenüber, dass man eine Handlung dann als gute Tat werten soll, wenn ein vernünftiger Gewinn schlicht unwahrscheinlich ist.
6. Ethik und Entscheidungen
Genau genommen wollen und handeln wir den ganzen Tag über immer wieder gegen den kurzfristigen persönlichen Vorteil, gegen unsere angeborene Tendenz, wenn wir nämlich Vorschriften und Gesetzen oder gar ethischen Geboten folgen. Sie alle wurden aufgestellt zugunsten der Wahrung der Rechte anderer oder wenigstens zugunsten des Gemeinwohls, von dem man nur sehr indirekt und prinzipiell profitiert. Vordergründig unterbinden sie mein persönliches Streben nach Selbstverwirklichung, verhindern egoistische Rücksichtslosigkeit. Ich stehle nicht und lüge nicht und halte mich an Vorschriften für den Straßenverkehr oder Brandschutz, von der üblichen Rücksichtnahme gegenüber Familie und Freunden einmal ganz abgesehen.
Wir leben in einer Welt voller Vorschriften und Regeln bis hin zur Etikette, die alle gelernt bzw. gelehrt werden müssen. Sie werden abgelegt in den Speichern des Gehirns, nachdem sie einerseits verbunden wurden mit den einschlägigen Umständen, in denen sie beachtet werden sollten, und andererseits mit entsprechenden emotionalen Markern, an deren Intensität die Lehrenden einen wesentlichen Anteil haben.
Wie geht nun das Gehirn mit diesen Aufgaben um? Wenden wir uns von der formalen Betrachtungsweise zur neurobiologischen Perspektive. Schauen wir in das Gehirn des leitenden Angestellten XY.
Bevor irgendwann eine Handlung eingeleitet werden kann (z. B. "Soll ich meine Arbeit noch fertig machen oder gleich zu den Freunden zum Kegeln gehen oder lieber den kranken Kollegen besuchen?"), muss eine Entscheidung gefällt werden. Genau genommen bestehen die meisten Entscheidungen aus drei Schritten: Zuerst wird aus verschiedenen Alternativen ausgewählt (also Arbeiten oder Kegeln oder Krankenbesuch). Dann wird entschieden, wie die ausgewählte Aktion durchgeführt werden soll (also vor dem Kegeln noch duschen und umziehen oder essen usw.), und dann muss über den aktuellen Beginn entschieden werden (Startschuss).
Der Wille sorgt dann für die tatsächliche Durchführung der Aktion. Mit Willensstärke bezeichnet man dann die Fähigkeit, ein an sich gefälligeres Ziel zurückzustellen zugunsten eines höherwertigen (also tatsächlich den Krankenbesuch machen und auf das Kegeln verzichten). Das Beispiel von Herrn XY zeigt also, dass er sich mit dem Verstand durchaus gegen den eigenen aktuellen Vorteil entscheiden kann, und dass er dieses altruistische Verhalten dann mit einem starken Willen auch durchzieht. Der Wille schirmt gewissermaßen die Durchführung gegen Versuchungen oder andere Störungen ab.
Die erste Entscheidung zwischen den Handlungsalternativen können wir uns gleichnishaft als ein Abwägen im eigentlichen Sinne des Wortes vorstellen. Zunächst stellt die Intelligenz des Herrn XY die geeigneten Alternativen zur Verfügung. Zur Intelligenz gehört nämlich eine potente Suchmaschine (wie Google). Diese Suchmaschine präsentiert vorzugsweise diejenigen Argumente, die mit dem emotionalen Marker "mag ich sehr" oder "ist mir sehr wichtig" versehen sind. Sie werden in den Arbeitsspeicher gebracht, der sehr klein ist, also nur wenige (wichtige) Argumente zur gleichen Zeit fassen kann. Im aktuellen Beispiel von Herrn XY präsentiert sie die Möglichkeiten "Arbeiten", "Kegeln" und "Krankenbesuch".
Der Verstand des leitenden Angestellten XY hatte dem "Arbeiten" schon vor der Speicherung im Gedächtnis die Priorität gegeben. Durch den emotionalen Marker, dass Freunde dem Herrn XY besonders viel Wert sind, erhielt aber "Kegeln" das größere Gewicht: Die Waage neigt sich dem Kegeln zu. Damit gibt die Emotion den Ausschlag. Das ist bekanntlich in 70 bis 80 Prozent aller Entscheidungen so. Sehr oft entscheiden wir also egoistisch, wenn dem keine wichtigen Gründe entgegenstehen.
In dieser Hinsicht wäre natürlich denkbar, dass im vorgegebenen Beispiel der Blick des Herrn XY auf den Terminkalender fällt. Er wird daran erinnert, dass er das Resultat der Arbeit am nächsten Morgen in einer Konferenz benötigt, für deren Gelingen ihm die Verantwortung übertragen wurde. Das Verantwortungsgefühl wiegt schwer. Es lässt die Waage sich zugunsten der Weiterarbeit neigen. Er bleibt also noch und vollendet zunächst die wichtige Arbeit.
7. Verantwortung als soziale Kompetenz
Damit der Verstand vorzugsweise zugunsten der Einhaltung von Geboten, Vorschriften oder Vorgaben entscheidet, können zwei Verstärker genutzt werden: Der mehr hoheitliche Appell über die Schiene Bürgerpflicht – Gehorsam – Strafe und der mehr freiheitliche über Verantwortung – Lob – Selbstwertgefühl. Kombinationen sind möglich, der freiheitliche ist der zeitgemäße und sei daher genauer ausgeführt.
Die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung ist dem Menschen wahrscheinlich angeboren, und zwar im Zusammenhang mit der Brutpflege, also der Sorge um die Nachkommenschaft. Diese Fähigkeit muss dann aber lange trainiert werden, damit sie schließlich zum unbewussten Kernelement der sozialen Kompetenz werden kann. (Ähnliche Trainingsnotwendigkeiten von angeborenen Grundfähigkeiten kennen wir bei anderen Schlüsselkompetenzen, zum Beispiel beim Erwerb der Sprache bzw. deren Grammatik.) Schon im frühen Kindesalter wird die innere Einstellung eingeübt, dass Rücksichtnahme auf die Mitmenschen sehr wichtig ist: Im Sandkasten, in der Wohnung, gegenüber Familienmitgliedern, später generell gegenüber allen anderen Mitmenschen, gegenüber Eltern, Lehrern, Vorgesetzten kommt ihr eine allgegenwärtige, wichtige Funktion zu.
Das Muster korrekten Sozialverhaltens wird sowohl kognitiv gelehrt, also durch Erklärungen, oder auch Ermahnungen und vielleicht sogar mit Hilfe von Maßregelungen, als auch unterschwellig durch Nachahmung von Vorbildern oder in der Kommunikation mit Kollegen, die sich nicht alles gefallen lassen. Spätestens der Erwachsene weiß, dass er zweckmäßig eigenverantwortlich seinen eigenen Willen sozialverträglich konfigurieren sollte.
Die soziale Grundeinstellung der Rücksichtnahme hat eine aktive Komponente: zu helfen und Verantwortung für Sachen oder Personen zu übernehmen. Es wird die allgemeine (ethische) Grundhaltung gelehrt und eingeübt: "Als verantwortungsbewusstes Mitglied der Gesellschaft ist mir kompetentes Sozialverhalten wichtig." Diese Einstellung wird zum wichtigsten Marker. In vielen hundert Wiederholungen wird eine Überzeugung aufgebaut, dass soziale Kompetenz nicht nur ein Wert an sich, sondern auch eine für das eigene Fortkommen wichtige Verhaltensgrundlage ist, die erwartet wird, die sich letztlich aber auch rentiert.
Diese positive Grundeinstellung zur Sozialkompetenz ist dann fortan auch die Vorlage für emotionale Marker bei allem, was als spezielle verantwortungsvolle Aufgabe charakterisiert ist, und wird ihr angekoppelt. Man übernimmt Verantwortung für die Sicherheit eines spielenden Kindes oder für die korrekte Durchführung einer Operation oder für das Funktionieren einer Maschine, jeweils mit allen Konsequenzen, die sich bei Durchführung der Aufgabe ergeben. Sie bedeutet eine empfindliche Einschränkung der eigenen Freiheit. Diese Einschränkung muss implizit, also von innen heraus akzeptiert werden.
Eine positive innere Einstellung zur Verantwortung ist grundsätzlich zu erwarten von jedem Mitglied unserer Gesellschaft. Sie scheint mir vergleichbar mit der Dankbarkeit. Auch für sie dürfte es ein angeborenes Raster geben. Aber auch sie muss gelehrt und geübt werden schon bei kleinen Kindern und dann über viele Jahre. Gemeint ist nicht eine oberflächliche Konditionierung, immer dann "danke" zu sagen, wenn man etwas bekommt, also als automatische Floskel. Gemeint ist die grundsätzliche Einsicht, dass es nicht selbstverständlich ist, dass der andere mir etwas gibt, was ihm gehört. Dadurch bekommt alles Geben und Nehmen einen Wert. Dafür gilt es ein aufrichtiges Gefühl zu erzeugen.
Ähnlich bedeutet die Übernahme von Verantwortung nicht nur den Gewinn eines Direktionsrechtes im Sinne von Macht über Geräte oder Personen. Sie muss verbunden sein mit dem möglichst tief verankerten und damit allgegenwärtigen Gefühl einer gewissen Fürsorgepflicht. Verantwortung ist eine Verpflichtung und damit ein ernster Anspruch an die Persönlichkeit. Diese kann und muss umso intensivere Verantwortung übernehmen, je höher ihre Intelligenz ist.
8. Schuld, Schuldgefühle und Erziehung
Die Vernachlässigung der Verantwortung erzeugt sowohl Schuld als auch ein Schuldgefühl. Das Schuldgefühl ergibt sich aus der bei Übernahme der Aufgabe gemachten Annahme des Handelnden, dass er seiner Verantwortung gerecht werde. Gelingt es ihm nicht, diesen Sollwert einzustellen, also seinem eigenen Anspruch zu genügen, bekommt er ein schlechtes Gewissen, das hier nicht näher erläutert werden soll. Dessen Stärke hängt ab davon, wie eindeutig die Pflicht einer Verantwortung zu Beginn der Handlung angenommen worden war.
Entscheidend für die Zuordnung und Bemessung einer Schuld erscheint mir, nachdem es keinen freien Willen gibt, jeweils die Verantwortung zur Entscheidung zu einem eigenen Willen. Erinnern wir uns: Vor der Tat hat das Gehirn des Täters in der Entscheidungsfindung zwischen den ihm zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen gewählt. An dieser Stelle hätte das Verantwortungsbewusstsein mit auf die Waagschale gelegt werden müssen, und zwar hinsichtlich einer allgemeinen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und ihren Gesetzen, vielleicht auch noch aus menschlicher Verantwortung gegenüber einem Schutzbefohlenem.
Nach den Gesetzen der Kausalität hätte der Täter nicht die freie Wahl zwischen diesen Alternativen gehabt. Deren Verrechnung erfolgt bei der Entscheidung vorwiegend gemäß dem Gewicht der rationalen Argumente oder gemäß dem Gewicht, das die emotionalen Marker erzeugen, wie wir schon besprochen haben.
Die Verantwortung des Täters liegt darin, dass er sich lange vor der aktuellen Entscheidung schon um eine korrekte soziale Einstellung hätte bemühen müssen. Das wurde ihm von seinen Erziehern, im Wiederholungsfalle auch vom Gericht eindringlich vorgetragen. Es gab außer den Ermahnungen auch genügend Gelegenheit zum Nachdenken und zur Ausbildung eines sozialen Verantwortungsgefühls. Dieses hätte den aktuellen Alternativen längst angefügt sein müssen: Einbrechen, stehlen, überhaupt dem Gesetz zuwiderhandeln darf ich nicht.
Wäre diese innere Einstellung ausreichend stark ausgebildet gewesen, wäre sie auch bei der aktuellen Entscheidung mit auf die Waagschale gekommen und hätte eine Straftat verhindert.
Es ist davon auszugehen, dass ein erwachsener Mensch ausreichend Kenntnis von den einschlägigen Geboten, Gesetzen und Vorschriften hat. In einem freiheitlichen Staat hat er wohl nicht die Pflicht, sondern die Verantwortung, sich mit ihnen verstandesmäßig auseinanderzusetzen, und er hat und zu realisieren, dass sie zu befolgen sind. Erzieher und andere Mitmenschen sollten ihm dabei geholfen haben.
Beweist die Tatsache seines gesetzwidrigen Verhaltens, dass sein Verantwortungsbewusstsein zu gering war, muss die Gesellschaft sich das Recht nehmen, auf einer diesbezüglichen Nacherziehung zu bestehen. Die wird zweckmäßig in einer geschlossenen Anstalt und in adäquaten Zeiträumen durchzuführen sein. Damit ist die Argumentation für die Jurisprudenz modernisiert. Das Resultat “Freiheitsentzug” bleibt bestehen, wird aber um den Erziehungsfaktor bereichert.
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