Leseproben:
Aus dem Buch “Das ethische Gehirn” können Sie hier zwei Kapitel einsehen
1. Vorwort
Vorwort
Die Frage, ob der Mensch nun einen autonomen freien Willen hat oder nicht, ist seit Jahrhunderten ein zentraler Diskussionspunkt zwischen Geistes- und Naturwissenschaft. Allerdings: Wenn ich Bekannte frage, sind sie ohne Ausnahme von der Freiheit ihres Willens überzeugt. Ist der Widerspruch gegen dieses allgemeine Votum nur eine Spitzfindigkeit der Neurowissenschaft? Oder gar ein Fehlschluss?
Mich hat die Frage als Student gelegentlich beschäftigt. Damals machte mein Vater mit mir meist am Sonntagnachmittag einen langen Waldspaziergang. Ausführlich pflegten wir Probleme, die in der Woche aufgefallen waren, zu diskutieren, und so auch dieses. Mein Vater, der neben seiner Zoologie auch Philosophie studiert hatte, verteidigte eine metaphysische Sphäre im Menschen. Ich argumentierte aus der Warte des Medizinstudenten wohl etwas hart, wenn ich dem gegenüber den Menschen samt seinem Denken und Fühlen als das ausschließliche Produkt der Evolution sah.
Später in meinem Beruf als Chirurg blieb ich einfach dabei, die mechanistische Theorie von der Funktionsweise der inneren Organe, mit denen ich es zu tun hatte, auf den ganzen Menschen und damit auf alle Hirnfunktionen auszudehnen. Zwar ist es eine besonders wichtige Grundregel für den Arzt, den persönlichen Willen eines jeden Patienten zu achten und zu berücksichtigen, aber beim Aufklärungsgespräch, das dieser Willensbildung vorausgeht, geht es meistens um Sachfragen: Warum bin ich krank geworden? Welche Folgen wird die Krankheit haben? Was bewirkt die Therapie Gutes oder möglicher Weise auch Nachteiliges?
Es geht um Ursachen und Wirkungen, auch bei der Berücksichtigung der Gefühle des Patienten. Die Entscheidung des Kranken beruht selbst bei existentiellen Perspektiven wie Gesundheit oder Tod ganz offensichtlich auf der Abwägung von Argumenten. Diese Abwägung kann äußerst schwierig sein. Nicht selten sind alle sich ergebenden Alternativen für den Kranken gleich ungünstig, die Risiken möglicher Strategien sind häufig so schwer zu kalkulieren, dass angesichts des Dilemmas selbst für den Fachmann guter Rat sehr schwierig ist. Gerade bei schweren Entscheidungen ist der freie Wille keine Option. Der Patient kann dann eigentlich nur darüber entscheiden, ob er dem ratgebenden Arzt, also dem Fachmann vertrauen will oder nicht.
Erst heute im Ruhestand, in dem ich mich ausführlich mit der Emotionspsychologie beschäftige, wurden für mich Fragen nach dem Selbst, dem Bewusstsein und auch bezüglich der Entscheidungsfindung wieder aktuell. Unverändert bin ich überzeugt, dass der Mensch keinen freien Willen haben kann.
Aber warum betone ich das? Warum ist die Frage nach dem freien Willen überhaupt wichtig? Warum kann oder muss man ihn ablehnen? Ist das ein rein theoretischer Disput, oder hat der freie Wille Konsequenzen?
Die in den Neurowissenschaften heute vielfach vertretene Ablehnung der Idee eines autonomen Willens steht im Gegensatz zur Lehrmeinung der Philosophie, der Moraltheologie und der Mehrheit der Juristen. Dieser Gegensatz beruht ganz wesentlich auf der Einstellung zur Kausalität. In der gesamten Naturwissenschaft gilt (mit gewisser Einschränkung in der Quantenphysik), dass es keine Wirkung ohne Ursache gibt. Und da die Naturwissenschaftler der Überzeugung sind, dass alles und jedes in der Welt und selbst im Weltall von ihnen untersucht und vermessen werden könnte, beruht aus ihrer Sicht alles Geschehen in dieser Welt auf Kausalität. Der Mensch ist so eindeutig in die Natur dieser Welt und damit in die Naturgesetze eingebunden, dass auch jede Funktion seines Gehirns der Kausalität, die in dieser Welt herrscht, unterliegt: jeder Gedanke, jedes Gefühl, jeder Nervenimpuls, und eben auch das Wollen.
Für die Geisteswissenschaften jedoch ist diese Kausalität der physischen Welt kein Gesetz, sondern eine Erfahrung, nur ein Sonderfall, wenn man die Kausalität nicht überhaupt aufgrund logischer Ableitungen infrage stellt. Die großen Denker der Antike gingen fast alle von der Existenz einer zweiten größeren metaphysischen Welt ohne eine beengende Kausalität aus. In dieser, dachte man, sind die Götter und andere Geisteswesen, die Seele, die Ideale, oft die großen Gedanken und gelegentlich die Gefühle angesiedelt. Der Mensch hat also irgendwie Anteil an ihr. Die Teilhabe an der metaphysischen Welt jedenfalls beim Denken wird als entscheidendes Alleinstellungsmerkmal des Menschen gegenüber den anderen Kreaturen in der realen (physischen) Welt angesehen. Seine Gedanken sind frei (jeder kann das so empfinden), und aus dieser Freiheit folgt die Freiheit des Willens.
Im Alltag empfindet der Mensch immer wieder den Erfolg seiner freien Entscheidungen. Nehmen wir zum Beispiel jenen jungen Mann, der seine Freunde zu einer Wanderung am Sonntagmorgen überredet hat. Die meisten hatten zunächst keine Lust gehabt. Nachträglich sind jetzt alle froh, doch mitgegangen zu sein. Die Stimmung war bestens, und das Wetter war entgegen der Voraussage schön. Der Initiator denkt zurück an den Tag zuvor, wie er da überredet und organisiert und sich sonst bemüht hat. Er hat nun das Gefühl, dass es sehr gut war, dass er die spontane Idee hatte, aus einer Laune heraus, einfach so. Er hielt es für sein Verdienst, er hat es so gewollt. Er sah keinen anderen Grund. Er hatte plötzlich diesen Einfall gehabt, und dann war es seine Entscheidung gewesen, gerade so zu handeln, seinen Willen durchzusetzen.
Wir werden ausführlich darüber sprechen, ob es ein Irrtum ist – manche sprechen von einer Illusion – wenn dieser junge Mann glaubt, dass er frei entschieden und gewollt hat. Wir werden überlegen, wie dieser Irrtum zustande kommt, und wofür er gut und wichtig ist. Zunächst komme ich noch einmal auf die eben skizzierte dualistische Weltanschauung zurück. Für sie haben die erstarkenden Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten zwei Probleme gebracht, die uns hier interessieren.
Zum einen besagen die gefundenen Naturgesetze, dass die reale Welt ein in sich geschlossenes System ist, beispielsweise hinsichtlich der Erhaltung der Energie. Von außen, also zum Beispiel aus einer metaphysischen Gedankenwelt kann keine zusätzliche Energie hineingebracht werden. Ein Freier Wille aus der metaphysischen Welt könnte von dort keine zusätzliche Energie in die physische Welt einbringen, wenn er in ihr etwas bewegen wollte. In der realen Welt selbst ist aber kein freier, also von Ursachen unabhängiger Wille (der selbst aber eine Ursache wäre) denkbar.
Zum anderen scheint die schon angesprochene Kausalität den sogenannten Determinismus zu bedingen. Er besagt, dass mit der Kausalität nicht nur das Entstehen aller gegenwärtigen Zustände erklärt werden kann, sondern dass dann natürlich auch für alles Künftige die Gesetze von Ursache und Wirkung gelten. Und dann wäre das ganze Geschehen der Zukunft unerbittlich aus den Ursachen, die heute gerade bestehen, Schritt für Schritt festgelegt.
Diese Konsequenz der Kausalität, also der Determinismus wird nur von wenigen rückhaltlos akzeptiert – selbst unter denjenigen, die an einer Diskussion der Frage des freien Willens überhaupt interessiert sind. Alles Geschehen wäre damit schon vorbestimmt, ehe es überhaupt stattgefunden hat. Verantwortungsbewusste Menschen stemmen sich gegen die Vorstellung, dass dann eigentlich alles Bemühen sinnlos ist. Apathie wäre die Folge. Es käme dann ja ohnehin so, wie es die Abfolge der Kausalitäten bedingt. Ein allwissender Weltgeist im Sinne des Laplace'schen Determinismus könnte schon heute alle zukünftigen Geschehnisse wissen, er würde über unsere Anstrengungen lächeln.
Die Diskussion wird sicher seit Jahrhunderten und auch heute noch auch deswegen so leidenschaftlich geführt, weil die Unfreiheit des individuellen Willens und dessen Abhängigkeit von der Kausalität nicht dem alltäglichen Empfinden der Menschen entspricht, übrigens auch nicht dem meinen. Aber seit ich mich in der Emotionspsychologie etwas besser auskenne, hat der Determinismus für mich seinen Schrecken verloren. Jetzt finde ich das Problem im Gegenteil faszinierend, und ich sehe keine Probleme mehr mit einem konsequenten naturwissenschaftlichen Realismus.
Warum nicht mehr? Nun, die Leserinnen und Leser, die sich für intelligent halten, mögen einmal ganz unvoreingenommen überlegen, was sie wählen würden, wenn sie bei voller Akzeptanz der Kausalität für sich selbst eine Strategie entwickeln dürften, mit der sie unter dieser Kausalität am besten überleben könnten.
Wahrscheinlich haben Sie nicht die Muße, das Buch zur Seite zu legen und nachzudenken. Tun wir es gemeinsam: Sehr oft gibt es vielerlei Faktoren, die eine Entscheidung beeinflussen. Sie würden sich sicher einen Mechanismus wünschen, der (natürlich ebenfalls streng nach den Gesetzen der Kausalität konstruiert) Ihnen immer dann, wenn es mehrere einwirkende Ursachen gibt, diejenigen heraussucht, die für Sie persönlich am günstigsten sind! Nun, genau das machen alle Tiere, die ein einigermaßen leistungsfähiges Gehirn haben. Und der Mensch mit seinem Hochleistungsgehirn ist natürlich der unangefochtene Meister. Er hat nahezu freie Wahl bei seinem Handeln. Ich will Ihnen das möglichst verständlich erklären.
Allerdings muss ich wohl in einem einführenden ersten Kapitel zunächst meine naturalistische, also kausalitätsbasierte Sicht näher begründen. Andererseits werde ich wenigstens einige wichtige Argumente der Befürworter einer metaphysischen, also nicht durch die Naturwissenschaften erklärbaren Freiheit für menschliches Wollen und Handeln erwähnen. Man wird mir hoffentlich nachsehen, dass ich diesen Überblick aus der Perspektive der Neurowissenschaften und nur bezüglich der mir wesentlichen Punkte darstellen werde. Wer sich tiefer einlesen möchte, mag die vielseitige Aufsatzsammlung "Freier Wille – frommer Wunsch? Gehirn und Willensfreiheit" von H. Fink und R. Rosenzweig zur Hand nehmen. Dort findet er auch reichlich weiterführende Literatur.
Wir werden in Kapitel 2 einige Hintergründe ansprechen, zum Beispiel, dass eine Jahrtausende alte Denktradition der Philosophie davon ausgeht, dass der Mensch diesen freien Willen haben muss. Die Versuchung ist groß, sich derartigen metaphysischen Weltentwürfen anzuschließen, weil der Mensch dadurch als etwas Besonderes aus der übrigen mechanistischen Welt mit ihren engen Gesetzmäßigkeiten herausgehoben wird. Seine ohnehin schon gewaltige Denkkraft wird gebührend bewertet, denn sie befähigt ihn zu Besserem. Er erhält einen Anteil an einer höheren, übernatürlichen, ja sogar göttlichen Welt. Der Determinismus wird als Angriff auf diese metaphysische Wertigkeit des Menschen gesehen (B. Kanitscheider). Auf Einzelheiten diesbezüglicher Theorien werde ich nicht eingehen. Sie füllen ganze Bibliotheken. Ich werde sie nur insoweit behandeln, als an dieser jenseitigen Teilhabe des Menschen meistens auch die Idee der Verantwortung zum ethischen Verhalten und letztlich eben auch die Freiheit des Willens festgemacht wurden.
In Kapitel 3 möchte ich grundsätzliches Verständnis dafür wecken oder festigen, dass die Naturwissenschaften inzwischen derartig viele Kenntnisse über den Aufbau des Gehirns und über seine Funktionen zusammengetragen haben, dass man unterstellen darf, dass alles, was im Gehirn geschieht, sogar das abstrakte Denken und die virtuelle Vorstellung letztlich auf "simplen" biochemischen oder bioelektrischen Mechanismen beruht. Damit unterliegt alle Gehirnaktivität der Kausalität. Im übrigen werden in Kapitel 3 die Grundlagen derjenigen Gehirnfunktionen geschildert, die für das Verständnis meiner Erörterungen von Vorteil sind.
In Kapitel 4 werde ich aber Beweise anführen dafür, dass der Mensch keineswegs bedauernswert ist, wenn er im Lichte der Naturwissenschaft dieser Kausalität mit all seinen geistigen Kräften ausgeliefert ist. Er ist keineswegs ihr Spielball. Ich behaupte, dass das System der Kausalität keineswegs so trostlos ist, wie es zunächst erscheint. Meine Begründung dafür, dass wir zwar keinen radikal freien, aber immerhin einen eigenen Willen im Rahmen der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten haben, beruht in erster Linie auf der Emotionspsychologie, mit der ich mich seit vielen Jahren beschäftige.
Wir erkennen, dass die Menschen, ja überhaupt alle Organismen mit leistungsfähigen Gehirnen nicht einfach starre Rädchen in einer sturen Weltmaschinerie sind. Gehirne besitzen Mechanismen, mit denen sie – ihrerseits streng nach den Gesetzen der Natur – unter Kausalitäten auswählen können. In Kapitel 4 lernen die Leser also jene "Ursachenauswählmechanismen" kennen, die sie sich vorher gewünscht haben. Dabei geht es immer um den eigenen Vorteil. Dieser "institutionalisierte Egoismus" ermöglicht den Lebewesen, persönliche Chancen zu nutzen, das eigene Schicksal zu optimieren.
Mit Hilfe von (emotionalen) Bewertungsmechanismen können alle höheren Tiere diejenigen Kausalfaktoren bevorzugen, die ihnen vermehrte Überlebenschancen zu versprechen scheinen, und können Gefahren meiden. Sie unterliegen dann zwar auch der Kausalität, aber sie benutzen eine für sie vorteilhafte Konstellation derselben. Darüber hinaus kann der Mensch im Vorhinein abwägen, welche Kausalattributionen ihm welchen Nutzen oder welche Risiken bringen dürften. Sein Gehirn besitzt "Schaltungen", die auf diese Weise gezielt diejenigen Gesetzmäßigkeiten bevorzugen, von denen seine Vorauskalkulationen verbesserte Chancen verheißen. Derartige konstruktive Besonderheiten seines Gehirns haben ihm erlaubt, fast die ganze Erdoberfläche aktiv zu seinem vermeintlichen Vorteil zu verändern. Diese erstaunlichen Konstruktionsmerkmale des menschlichen Gehirns dürften jetzt zur Ursache einer kaum mehr aufzuhaltenden Naturkatastrophe werden.
Freilich, auch das muss man in der Summe als eine determinierte Systementwicklung unserer Welt sehen. Aber das spezielle "System Gehirn" läuft nicht einfach automatisch ab. Insbesondere die Antriebe der intrinsischen Motivation erzwingen, dass das einzelne menschliche Individuum aktiv denken und handeln muss. Das persönliche Bemühen des einzelnen Individuums ist vorgegeben als eine der Grundeigenschaften des Systems. Wir könnten grundsätzlich nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Wir müssen die Naturgesetze (zum Beispiel bezüglich des Überlebens des Fittesten) erfüllen, und zu denen gehört, dass wir uns anstrengen. Und wenn wir schon mitmachen, dann sollten wir das Ganze als ein interessantes Geschehen betrachten, zu dem ja schließlich auch (als ebenfalls phylogenetisch entwickelte Belohnung) Erfolgserlebnisse und Lebensqualität gehören.
Die naturwissenschaftlich begründete Akzeptanz der Derterminiertheit entspricht, wie gesagt, nicht dem alltäglichen Empfinden der Menschen. Ich möchte dieses Empfinden in Kapitel 5 zu erklären versuchen. Wir werden erkennen, dass es Vorteile für das Selbstwertgefühl bringt, und dass auch die Gesellschaft davon profitieren kann, dass der Mensch sich diesem Irrtum hingibt, er habe einen freien Willen.
Das Gefühl, einen freien Willen zu haben, wird Anlass sein, in Kapitel 6 überhaupt die Funktion von Gefühlen zu besprechen. Wir kommen dadurch zu Erkenntnissen, die ähnlich sind wie sehr aufregende Experimente von Libet et al., die zu der Hypothese führten, dass Willensäußerungen nicht primär vom Bewusstsein selbst ausgehen. Wir werden also zur Vorstellung kommen, dass das Bewusstsein über unbewusste automatische Willensäußerungen im Gehirn informiert wird. Im Vorstellungsraum des Bewusstseins kann dann geplant und beurteilt werden. Die für die Entscheidungen selbst notwendigen Berechnungen werden offenbar von tieferen Ebenen des Gehirns ausgeführt.
Ich finde es faszinierend, was sich "das Leben" alles hat einfallen lassen, um die sture Kausalität der Naturgesetze ihren Bedürfnissen anzupassen. Ich lade die Leserinnen und Leser ein, sich vor Augen führen zu lassen, wie viele Spezialfunktionen in unser Gehirn eingebaut sind, damit wir den unpersönlichen Materialismus der unbelebten Natur gewissermaßen mit seinen eigenen Mitteln umgehen, um nicht nur Überlebensvorteile, sondern schließlich auch eine hohe Lebensqualität zu erreichen. Gerade weil alles mit rechten (kausalen) Dingen zugeht, ist das Gehirn auch aus dieser Perspektive ein Wunderwerk. Ob es außerdem eine metaphysische Ebene zum Beispiel für den Glauben gibt, brauchen wir in diesem Zusammenhang nicht zu erörtern.
Die Diskussion um den freien Willen ist nicht rein akademisch. Eine konkrete Konsequenz dieser Überlegungen besprechen wir in Kapitel 7. Nicht nur ererbte Anlagen haben ein großes Gewicht für die Verhaltenssteuerung des Menschen, sondern ganz entscheidend auch vermittelte und gelernte Lehrinhalte. Als zentrale Schaltfunktion werden wir die – ebenfalls zu lehrende – Verantwortung diskutieren. Wenn das denkende Gehirn mit diesem "Prinzip Verantwortung" die Gesetze und Regeln der Gesellschaft verinnerlicht und zu seiner Grundhaltung macht, hat es das Adjektiv "ethisch" verdient. Das wirft ein Schlaglicht auf die gewaltige Bedeutung der lebenslangen ethischen Bildung aller Mitglieder der Gesellschaft. Ihre Charakterfestigkeit muss in der Kindheit zuverlässig geprägt und im weiteren Leben ständig trainiert werden.
Im letzten Kapitel 8 können dann die Vorstellungen von Schuld und Strafe sachgerechter präzisiert werden. Alle diejenigen, die einen freien Willen unterstellen, leiten daraus eine "moralische" Schuld eines Täters an fast allen Straftaten ab und fordern entsprechend eine "gerechte" Strafe (im Diesseits und/oder im Jenseits). Wer andererseits von einem durchgängigen "harten" Determinismus ausgeht, kommt zu dem Schluss, dass der Täter eigentlich keinen Einfluss auf sein Handeln haben konnte, dass er selbst also keine Schuld hatte, und dass Strafe folglich ungerechtfertigt ist, sofern man sie nicht als Mittel zur Abschreckung oder Erziehung versteht. Entsprechende Überlegungen finden sich in der modernen Justiz allenthalben. Die Konsequenzen der Anerkennung eines radikalen Determinismus wären weitreichend. Die Justiz wacht im Auftrag der Gesellschaft darüber, dass die Rechte aller Bürger gewahrt werden. Wenn nun kein Übeltäter mehr selbst schuldig wäre, weil sein Verhalten ja vorbestimmt war, müsste man ganz neue Wege finden, um unser aller Rechte zu schützen.
Wenn wir nun als dritte Konzeption annehmen, dass das ausgewachsene Gehirn des Menschen selbst ursächlich wirksame Gedankenkonstrukte produzieren und daraus solche auswählen kann, die seinem Verhalten dienlich zu sein scheinen, dass das "ethische" Gehirn des Individuum also Verantwortung haben und einen eigenen Willen entwickeln und realisieren kann, dann muss auch die Schuldfrage entsprechend differenziert gesehen werden. Nicht schuldfähig ist dann nur derjenige, der (noch) keine ausreichende Belehrung über sozialverträgliches Verhalten bekommen hat, der eine solche mangels ausreichender rationaler Fähigkeiten nicht nutzen konnte, oder der ausschließlich triebgesteuert handelte, der seine intrinsischen Antriebe also nicht rational kontrollieren konnte. Man wird das bisherige "Freiheitspostulat", das die Notwendigkeit eines freien Willens für den Schuldbegriff zum Ausdruck brachte, exakt und pragmatisch durch ein "Verantwortungspostulat" ersetzen.
Wir werden in Kapitel 8 ausführlich begründen, dass künftig auf die gesellschaftskonforme Gewichtung von Argumenten in den Gehirnen der überführten, vielleicht sogar auch der potentiellen Täter und damit auf die Belehrung und auf die Wiedergutmachung (als Lernprozess) der Schwerpunkt zu legen sein wird. Am Prinzip der Straffähigkeit und der Strafe wird sich nicht viel ändern. Aber wie überall, wo Fortschritt stattfindet, wird man differenzierter denken und urteilen müssen. Es wird nicht mehr einfach um Schuld gehen, sondern um Wissen und Intelligenz des Täters. Aber eine Strafe kann man ihm androhen und ihn, falls seine Tat eine solche bedingt, auch zukommen lassen.
Wir werden aber auch überlegen, dass das Gefühl eines freien Willens, das jeder Mensch hat, nicht nur zu einem nutzbaren Schuldgefühl führt, sondern auch psychologische Vorteile wenigstens für sein eigenes Selbstwertgefühl hat. Auch die Gesellschaft profitiert von der gefühlten Vorstellung des Laien, dass das persönliche Wollen insoweit frei sei und dass daraus Verantwortung erwachse. Man muss diese Vorstellung also nicht überall korrigieren wollen, man muss nicht alle Leute zu einem naturwissenschaftlichen Realismus bekehren. Aber Verantwortungsträger sollten sich diese Überlegungen bewusst machen.
Wenn man von diesen pragmatischen Überlegungen absieht, braucht eigentlich niemand mehr einen autonomen, freien Willen, weder zum Einkaufen noch, um Gutes zu tun, noch zum Wählen oder zum Diskutieren. Durch Akzeptieren der Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die die Leistungen unseres Gehirns aufzeigen, besonders aber durch Vertrauen auf das Prinzip von Verantwortung und korrekter Einstellung zu Ethik und Gesetz kann jedoch das Unbehagen gegenüber dem Determinismus völlig in den Hintergrund gedrängt werden, auch wenn er eine ernst zu nehmende Konsequenz der Kausalität bleibt.
Wir werden aber sicher zu dem Schluss kommen, dass eine wirksame Reform und Intensivierung der ethischen Aus- und Weiterbildung unbedingten Vorrang hat, ob man nun an einen freien Willen glaubt oder das neurowissenschaftlich begründete Prinzip des eigenen Willens verstanden hat.
Für guten Rat danke ich ganz besonders Herrn Dr. Werner Payer und Herrn Hansjörg Weitbrecht. Für die bewährt kritische Durchsicht des Textes bin ich Herrn Kurt Hoffmann sehr dankbar. Geholfen haben mir in vielerlei Hinsicht meine Schwester Dr. Sigrid Pfitzner-Seidel, meine Kinder, mein Schwiegersohn Dr. Oliver Kociok und als stete, nicht hoch genug einzuschätzende Unterstützung meine liebe Frau Vita.
Vorrücken zum Schlusskapitel weiter unten auf dieser Seite
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Erklärung
Siehe zur Determiniertheit auch meine Stellungnahme im Schlusskapitel dieses Buches.
Erklärung
Da der Mensch denken und planen kann, wachsen ihm gewaltige Fähigkeiten in Hinsicht auf die Beeinflussung der Kausalität zu. Er kann sich sein künftiges Handeln gemäß persönlicher Preferenzen ausdenken. Er kann diese Wünsche im Gedächtnis ablegen und mit starken emotionalen Markern belegen. Wenn er einen derartigen Plan bei entsprechender Gelegenheit aus dem Gedächtnis abruft, kann der zur entscheidenden Ursache für sein Handeln werden. Scheinbar hat er die Ursache für sein Handeln selbst erzeugt. Aber nur scheinbar: Seine ursprünglichen Präferenzen waren irgendwie determiniert, also durch andere frühere Ursachen bedingt. Aber sie gereichen ihm zum Vorteil!.
Erklärung
“Das Bewusstsein” ist noch nicht ausreichend verstanden. Es gibt sehr viele Versuche einer Erklärung. Es ist sicher mehr als der Wachzustand. Der Arzt prüft, ob jemand “ansprechbar“ ist, also auf lauten Zuruf oder auf Kneifen reagiert, und dann muss er feststellen, ob der Patient örtlich, zeitlich und in Bezug auf die eigene Person orientiert ist.. Sonst bezeichnet er das Bewusstsein als eingeschränkt oder gar den Patienten als “bewusstlos”. Manche Autoren rechnen sogar Funktionen wie Gedächtnis und Intelligenz zu Bestandteilen des Bewusstseins, während für andere nur das Empfinden des “Ich” bezeichnend ist.
Erklärung
Zum Problemkreis Verantwortung finden Sie weiter unten im Schlusskapitel des Buches noch einige Gedanken.
Ausführliche Betrachtungen zu Verantwortung in Verbindung mit Schuld und Strafe habe ich der Neuen juristischen Wochenschrift zur Veröffentlichung angeboten.
Kommentar
Das Freiheitspostulat, auf dem die heutige Rechtsprechung noch ganz überwiegend beruht, geht davon aus, dass der Mensch einen autonomen, also freien Willen habe. Er habe anstelle der Straftat (unter völlig gleichen äußeren Bedingungen) auch anders handeln können. Wenn man wie ich überzeugt ist, dass es einen solchen freien Willen nicht geben kann, muss man die Schuld und die Strafe anders begründen. Ich führe im Buche aus, dass der Straftäter die ethischen Regeln nicht ausreichend verinnerlicht hatte, insbesondere kein ausreichendes Verantwortungsgefühl hatte und dies folglich im Rahmen seiner adäquaten Freiheitsstrafe nachlernen muss.
Erklärung
Die Gesellschaft muss ihren Mitgliedern die Umgangsformen und die ethischen Regeln lehren, zum Beispiel zur Befolgung des Rechtssystems, aber auch zu Werten wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft usw. Sie müssen nicht nur gelernt, sondern verinnerlicht werden, Der Verstand muss sie als sehr wichtig bewerten, sie müssen auch den emotionalen Marker tragen: “das finde ich sehr wichtig”. Dann können sie verstärkend in die Entscheidungen eingehen, also befolgt werden. Es werden positive Einstellungen zur Gesellschaft und zum Verhalten generiert. Zu diesen Einstellungen gehört auch die Verantwortung. (siehe hierzu auch in Schlusskapitel).
Erklärung
Ich schmeichle mir allerdings, dass ich die offenen Türen besser kenntlich gemacht habe. Keiner sollte mehr sagen, er habe die Türen, also die Möglichkeiten übersehen, er habe nicht um die Probleme und einige Lösungsmöglichkeiten gewusst.
Da gilt vor allem bezüglich des Lehrens und Lernens von ethischen Regeln. Viele haben sich in Jahrtausenden darum bemüht.
Skeptiker haben Unrecht wenn sie sagen, die vielen Philosophen und Pädagogen hätten keinen Erfolg gehabt, die Menschen seien heute so schlecht wie vor 2.000 Jahren. Einerseits weiß keiner, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn sich nicht so viele redlich um soziale Kompetenz bemüht hätten. Und sicher ist andererseits: Ethik wird nicht vererbt. Sie muss jeder Generation wieder neu gelehrt werden.
Prof. Dr. Wolfgang Seidel, Sindelfingen
Stichworte
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