Korrekturversion vorab für einen Artikel in der Neuen Juristischen Wochenschrift 33/2009 Online. Leider ist die endgültige Version dieses Aufsatzes nur den Abbonenten der NJW zugänglich.
2. Strafrecht und Wille
Der eigene Wille ermöglicht das “Verantwortungsprinzip”
1. Einleitung: Der freie Wille ist ein Gefühl
Das Postulat eines freien Willens ist nicht nur eingebettet in die Denksysteme von Glauben und Philosophie, sondern auch Grundlage der Strafjustiz. Das Gefühl (!), einen freien Willen zu haben, ist jedem Menschen eigen. Andererseits erkennt jeder nach kurzem Nachdenken, dass er seine Entscheidungen praktisch ausnahmslos nicht einfach frei, sondern auf der Basis von Ursachenabwägungen fällt.
Die Naturwissenschaft wiederum kann vom Prinzip einer allgegenwärtigen Kausalität und damit vom Determinismus keine Abstriche machen. Auch erlaubt ein durchgängiges Kausalitätsprinzip keine Einwirkung eines absolut freien Willens in das Geschehen in der realen Welt. Der schlichte physikalische Determinismus wäre aber für die Jurisprudenz eine hochproblematische Option. Jeder Täter könnte auf die seiner Tat voraufgegangenen Kausalketten verweisen und geltend machen, dass ihn keine persönliche Schuld treffe, weil er diesem Determinismus ausgeliefert gewesen sei.
Alle wohlgemeinten Versuche einer kompatibilistischen Überbrückung der Diskrepanz zwischen der geisteswissenschaftlichen und der bisherigen naturwissenschaftlichen Position sind letztlich Kompromisse, deren Zugeständnisse unweigerlich berechtigte Kritik provozieren. Eine klare Lösung kann nur erzielt werden, wenn man einerseits das Postulat eines freien Willens aufgibt und andererseits das alte Konzept des Determinismus um einige Erkenntnisse der modernen Psychologie erweitert.
2. Der Wille als Resultat von Entscheidungen
Grundlage dieser notwendigen Neufassung des Determinismus bleibt natürlich die unbestrittene Feststellung, dass jede Wirkung eine Ursache hat. Diese Ursache kann nun aber auch eine Entscheidung eines Gehirns sein. Für Entscheidungen sind jedoch – definitionsgemäß! – mehrere bis viele Alternativen (in unserem Falle Ursachen!) vorzugeben. Wo mehrere Ursachen zur Auswahl stehen, kann ein intelligenter Mechanismus die für ihn vorteilhaften (die er also "will") bevorzugen. Das macht jedes Gehirn. Nach psychologischer Lehrmeinung kommt ein Wille in der Regel erst zum Einsatz, wenn zuvor sowohl eine Entscheidung über die beste Alternative als auch eine zweite Entscheidung über die zweckmäßige Realisierung der gewählten Alternative getroffen worden ist.
Man mache sich klar, dass im Nervensystem höherer Tiere und des Menschen nicht nur Reflexe ablaufen, bei denen auf eine Ursache direkt eine vorgegebene Reaktion folgt. Die hochkomplexen neuronalen Netze des Gehirns sind fast immer zwischengeschaltet zwischen Ursache und Reaktion. Sie können "Alternativ-Ursachen" einführen und "Alternativ-Reaktionen" erzeugen. Die Kreatur entscheidet letztlich selbstbestimmt über ihr Verhalten, bewusst oder unbewusst. Die Evolution hat wenigstens drei Mechanismen hervorgebracht, mit deren Hilfe die Organismen, die über ein hinreichend leistungsfähiges Gehirn verfügen, ihre persönlichen Präferenzen aus der Reihe potentieller Ursachen selektieren können. Damit sind sie – durchaus im Zuständigkeitsbereich der Kausalität - zur Realisierung eines eigenen Willens fähig.
Einer der drei Mechanismen beruht darauf, dass alle größeren Gehirne die abgespeicherten Begriffe und Erinnerungen mit "emotionalen Markern" (A. Damasio) koppeln im Sinne einer persönlichen Bewertung. Beispiel: Bei allen Personen, die wir kennen, bei allen Lebensmitteln, bei jeder Art von Musik wissen wir sofort, ob wir sie mögen oder nicht. Alle Begriffe, die das Gedächtnis abgespeichert hat, alle Erinnerungen sind automatisch verbunden mit einer persönlichen Gefühlsqualität. Die Subjektivität menschlichen Denkens beruht wesentlich auch auf diesen emotionalen Markern. Die alles entscheidende Konsequenz der individuellen Bewertung ist jedoch, dass die Intelligenz dadurch in der Lage ist, im Vorfeld jeder Entscheidung aus den Gedächtnisspeichern des Gehirns die vorteilhaften Argumente bevorzugt zu präsentieren. Zu- oder Abneigung fördern die Nutzung positiver Erfahrungen bzw. warnen vor Gefahren. Dieses Präferenzsystem ermöglicht somit eine individuelle Handlungsplanung mit entsprechenden strategischen Vorteilen und eine gewisse Unabhängigkeit von schicksalsmäßig ablaufenden Kausalketten der Umwelt.
Neben dieser gleichsam automatischen Ursachenselektion auf der Basis der individuellen Erfahrung generiert zweitens das artspezifische System der Triebe bzw. der "angeborenen Bedürfnisse" gewisse im Laufe der Evolution bewährte
Abb. 1: Angeborene Bedürfnisse. Komprimierte Darstellung aus etwa 24 verschiedenen gerichteten internen Motivationen, teilweise wirksam erst nach entsprechenden Auslösemechanismen. Sie prägen entscheidend den Charakter eines Menschen, da sie individuell sehr unterschiedliche Intensität haben. Hier ist das angedeutet einerseits für einen eher hilfsbereiten, angepassten, aber auch neugierigen Menschen (ausgezogene Pfeile) und andererseits für eine eher dominierende, karrierebewusste Person (gestrichelte Pfeile). Die angeborenen Bedürfnisse formen auch Hoffnungen, Wünsche und Ziele des Menschen (nach Seidel 2008).
Handlungsstrategien. Die Gene (also körpereigene "Verursacher") motivieren zu artgerechtem Verhalten, das sich seit Jahrtausenden oder Jahrmillionen bewährt hat, sobald geeigneter Bedarf erkennbar ist. Hierzu gehören neben Grundbedürfnissen nach Nahrung oder Sexualität zum Beispiel genetisch vorgegebene Bedürfnisse nach Ansehen, Mitsprache, Kompetenz, aber auch zum Aufsuchen von Gesellschaft. Dazu zählt auch das Neugierverhalten (Abb. 1).
Diese im Zwischenhirn generierten Motivationen aktivieren den Organismus nicht nur zu vorteilhaftem (!) Handeln, sie erzeugen parallel das Gefühl eines eigenen Willens. Ihre erfolgreiche Ausführung wird vom Belohnungssystem quittiert. Das trägt zusätzlich zum Mehren von nutzbringender Erfahrung und zur Selektion optimaler Überlebenschancen bei. Verfolgt werden wie bei der zuvor beschriebenen emotionalen Bewertung primär egoistische Ziele. Aber bei den sozial lebenden Organismen gibt es immerhin Antriebe, die auch die Gemeinschaft fördern.
Das menschliche Gehirn verfügt mit seiner Denkfähigkeit drittens über enorme kognitive Möglichkeiten zur virtuellen Selektion und sogar zur Komposition von abstrakten Ursachen für vorteilhafte Entscheidungen. (Beispiel: "Wenn ich meine Termine überdenke, sollte ich morgen nachmittags im Garten arbeiten" = Entscheidung über Alternativen). Im "Vorstellungsraum" seines Gehirns kann der Mensch vielseitige auch völlig neuartige Gedankenkonstrukte durch Assoziation oder durch gezielte Neukombination bilden. ("Da fällt mir ein: Im Vorgarten könnte ich Geranien pflanzen." = Entscheidung über Handlungsmodalitäten, s. Abb. 2 untere Hälfte). Derartiges Assoziieren und Denken geschieht jedenfalls im Rahmen kausaler neuronaler Mechanismen. Alle Gedanken können mit befürwortenden (emotionalen) Markern kombiniert und dann in den zuständigen Gedächtnisarealen abgespeichert werden. Bei entsprechender Gelegenheit und intrinsischer Motivation können sie dann als relevante Ursache (!) für eine Entscheidungsfindung verwendet und damit handlungsbestimmend werden. (Nach Aufruf des Gedanken vom Vortag aus den Gedächtnisspeichern werden am nächsten Nachmittag dann Geranien gepflanzt, sofern bis dahin nicht noch wichtigere Argumente eine andere Handlungsentscheidung erzwingen.)
3. Ethik und Altruismus
Im Gegensatz zu den beiden zuerst geschilderten Mechanismen der emotional bewertenden und der motivationalen "Ursachenselektion" vermag dieser kognitive (kausalitätsmodifizierende) Mechanismus nicht nur egoistische, sondern auch altruistische Ziele erfolgreich anzustreben. Diese Denkmuster erzeugen nicht nur das Gefühl, sondern das Bewusstsein eines eigenen Wollens.
Mit den geschilderten drei Möglichkeiten der Kausalitätsmanipulation ist offensichtlich ein erheblicher Freiheitsraum eröffnet, und zwar innerhalb des Geltungsbereiches des Determinismus. Einer externen, also fremdbestimmten Ursache werden intrinsische, eigene zur Seite gestellt. Dann wird entschieden. Das Resultat der Entscheidung ist die selbstbestimmte Ursache für das nachfolgende, vom (eigenen) Willen begleitete Verhalten (Abb. 2). Durch die hier geltende Kausalität entfällt die Zufälligkeit und mögliche Willkür, die eine absolute Freiheit haben würde. Durch die Kausalität agiert der eigene Wille mit einer gewissen Berechenbarkeit.
Abb. 2: Das Gehirn modifiziert den Determinismus. Im Gegensatz zu der einfachen Kausalbeziehung in der Physik (obere Hälfte) können bei der psychologischen Verarbeitung der von extern einwirkenden Ursachen durch Gehirne (unterer Teil der Abbildung) drei Mechanismen wirksam werden. Alle Einflüsse werden durch emotionale Marker (A. Damasio) subjektiv bewertet (Mitte links). Sie können ebenso wie intern vorhandene Informationen durch Assoziieren und/oder durch logische Prozesse verknüpft oder modifiziert werden (links von oben). Zahlreiche auch endogene motivationale Einflüsse können Berücksichtigung finden (links von unten).
Die relevanten Argumente werden “gewogen“ und zu einer Entscheidung verrechnet (Mitte). Das Resultat dieser Auswahl wird vor einer zweiten Entscheidung hinsichtlich der optimalen Realisationsmöglichkeiten beurteilt. Gleichzeitig werden das mögliche Risiko und der individuelle (emotionale) Wert kalkuliert. In dieser Phase ist das Individuum für neue Alternativen kaum noch zugänglich. Aus den ursprünglichen “Ursachen“ wird also eine ausgewählt und gegebenenfalls durch den Verstand modifiziert oder durch eine aus den Speichern des Gehirns ersetzt.
Die Entscheidung zur Tat wird durch die Willensfunktion gegen Widerstände durchgesetzt und dabei gegenüber anderen Einflüssen abgeschirmt. Das Individuum empfindet das Resultat der beiden Entscheidungen mit gutem Grund als seinen eigenen Willen. (Auch ein gesprochenes oder geschriebenes Wort kann eine Handlung sein.)
In der Gesamtheit überwiegen allerdings bei diesen drei kausalitätsselektierenden Mechanismen des menschlichen Gehirns die egoistischen Tendenzen erschreckend. Die kognitive Gehirnleistung insbesondere ermöglicht vorsätzliche Lüge, Betrug und sogar Mord. Die Gemeinschaft sieht sich daher zur Aufstellung und Überwachung von mannigfaltigen Geboten, Gesetzen und Regeln gezwungen. Diese Begrenzungen der individuellen Freiheit (!) müssen jedem Mitglied der Gesellschaft nachhaltig gelehrt werden, damit es sie in seinen Handlungsplanungen möglichst regelmäßig und konsequent berücksichtigen kann.
Die tatsächliche Einhaltung aller Vorschriften, die praktisch das gesamte soziale Leben reglementieren, kann man durch ein vordergründig rationales System von Belohnung und Strafe, also durch fremdbestimmte Zusatzargumente zu konditionieren versuchen. Die zusätzliche Nutzung interindividueller Einflüsse wie Lob, Vorwurf, Tadel u. ä. und die Generierung eines Schuldgefühls und damit die gezielte Mitnutzung emotionaler Systeme des Handelnden wirken im Sinne einer dynamischen Feinregulierung von Ordnung und Frieden, reichen aber leider bei weitem nicht aus.
4. Verantwortung und Schuld
Zusätzlich wird daher dieser selbstsüchtigen Tendenz des menschlichen Geistes (nutzbar zur egoistischen Umgehung aller Regelwerke) das "Prinzip Verantwortung" in eben diesem Denksystem entgegengesetzt. Formal bedeutet Verantwortung eine rational zu begründende Selbstbeschränkung der persönlichen Freiheit zu Gunsten der Mitmenschen und/oder der sozialen Gemeinschaft und eine gleichzeitige Verpflichtung zum korrekten Durchführen übernommener Aufgaben. Psychologisch gesehen wird der natürliche Drang zur freiheitlichen Selbstbestimmung zurückgedrängt durch gelernte Überzeugungen bezüglich der sozialen Kompetenz.
Bei der Entscheidung zu verantwortungsvollem Handeln müssen die entsprechenden emotionalen Marker stärker wiegen als jeder Egoismus. Bewusst müssen daher grundsätzliche innere Einstellungen zu sozialem Verhalten gefördert worden sein, bis sie schließlich auch weitgehend unbewusst zuverlässig wirken (Abb. 3). Für den konkreten Einzelfall der Übernahme von Verantwortung wird zudem gezielt ein Verantwortungsbewusstsein erzeugt. Dieser Vorsatz wirkt als Sollwert für das schlechte Gewissen (Schuldgefühl), das sich gegebenenfalls nach der Tat (dem Istwert) ergibt.
Abb. 3: Selbstverwirklichung und Verantwortung. Die egoistische, letztlich den Vorteil der eigenen Gene anstrebende natürliche Grundhaltung des Menschen (senkrecht schraffiert ganz links) muss von der Gesellschaft durch Gesetze und Vorschriften massiv eingeschränkt werden (großer Pfeil). In der oberen Hälfte der Grafik wird angedeutet, dass das Individuum die Gesetze nach Möglichkeit umgeht bzw. verletzt und sich auch durch Strafe und Abschreckung kaum oder nur vorübergehend vom Egoismus abbringen lässt.
In der unteren Hälfte der Abb. wird ausgedrückt, dass demgegenüber eine gründliche Stärkung des Prinzips Verantwortung zu optimaler Selbstbeschränkung im Sinne sozialer Kompetenz führen kann. Wenn die innere Einstellung zur staatsbürgerlichen Verantwortung nicht stark genug geprägt wurde, können selbstsüchtige Strebungen wenigstens zeitweilig die Oberhand gewinnen. Zielgerichtete Unterweisung könnte die korrekte Haltung zur Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wieder herstellen (ganz rechts unten).
Die (kognitive) Einsicht in die Notwendigkeit des persönlichen Einbringens in Aufgaben anspruchsvoller Menschlichkeit muss also von Kindheit an gelehrt, mit emotionalen Markern versehen, als Einstellung verinnerlicht und dann lebenslang trainiert werden, da die Engramme sonst verblassen. Da die Gesellschaft dieses lebenslange Lehren und Wiederholen nicht ausreichend zu leisten vermag, wird zusätzlich die Eigenverantwortung für eine Art Selbstintensivierung des eigenen verantwortlichen Denkens gelehrt: "Du bist selbst verantwortlich, Dich um ausreichende Intensität Deines Verantwortungsbewusstseins zu bemühen." Und: "Denk mal selbst darüber nach, was Dein Plan für Folgen haben würde." Aber auch diese doppelte rationale Absicherung würde nicht ausreichen, könnte man sie nicht durch das angeborene System von (aktivem) Mitgefühl einerseits und (reaktivem) Schuldgefühl bzw. schlechtem Gewissen andererseits absichern. Letzteres ist stark von externen Einflüssen abhängig. Die (rationale) Verantwortung wird dadurch an einen derart massiven "emotionalen Marker" gekoppelt, dass weithin die Bezeichnung Verantwortungsgefühl gebräuchlich ist.
Gemeint ist also mit diesen Ausführungen jene Verantwortung, die sich bejahend aktiv für eine als bedeutsam erkannte Aufgabe engagiert. Wenn diese handlungsbezogene Verantwortung dann nach einer Tat evaluiert worden ist hinsichtlich Angemessenheit und Effektivität, eignet sie sich als Maß, gemäß dem das Individuum "zur Verantwortung gezogen" werden kann.
5. Das "Verantwortungspostulat" und etwaige "Strafe"
Ich maße mir nicht an, der Strafjustiz vorzugeben, welche Konsequenzen aus meiner psychologischen Ergänzung der herkömmlichen Vorstellung vom Determinismus zu ziehen sind. Ich erlaube mir lediglich, die folgenden Eckpunkte aus der Sicht der Alltagspsychologie anzuführen:
Das "Prinzip Verantwortung" ist das entscheidende Instrument, mit dem man den menschlichen Geist in die Aufrechterhaltung einer öffentlichen Ordnung einbinden kann. Das Prinzip ist beim gesunden Menschen genetisch angelegt, alle Inhalte müssen aber gelernt und trainiert werden und werden es ja auch. Entsprechend wird von jedem zurechnungsfähigen Menschen verantwortliches Handeln erwartet. Dessen Fähigkeit zur Verantwortung korreliert allerdings mit dem Grade seiner Intelligenz.
Die Justiz kann die Qualität dieser Verantwortung im Einzelfall als Beurteilungskriterium für persönliche Schuld instrumentalisieren: Hat ein Missetäter diesem "Verantwortungspostulat" nicht ausreichend entsprochen, muss die Gesellschaft an einer nachhaltigen, evt. sehr zeitaufwendigen Stärkung seines Verantwortungsgefühls interessiert sein und dies gegebenenfalls mit Ausdauer und Nachdruck und zweckmäßig in einer geschlossenen ("Weiterbildungs"-)Anstalt anstreben (Abb. 3 unten rechts). Allerdings wird die Gesellschaft aus humanem Prinzip und im eigenen Interesse die entsprechenden pädagogischen Voraussetzungen schaffen müssen.
Am Prinzip der Strafbemessung wird sich gegenüber dem bisherigen "Freiheitspostulat" kaum etwas ändern, wenn man künftig die Schwere der Schuld am Ausmaß der Vernachlässigung der Verantwortung abschätzt. Nur hinsichtlich der Durchführung einer "Strafe" wird der Freiheitsentzug (einschließlich seiner eventuellen abschreckenden Wirkung) künftig unter der Prämisse einer Förderung und Festigung des beim Täter offensichtlich unzureichenden staatsbürgerlichen Verantwortungsgefühls zu begründen und zu verhängen sein. Diese kann in schwerwiegenden Fällen erfahrungsgemäß auch viele Jahre erfordern. Ihr Erfolg ist – zugegeben – mit heutigen Methoden noch schwer zu verifizieren. Bei pädagogischer Unbeeinflussbarkeit wird die Gesellschaft weiterhin um einen Schutz der Bevölkerung durch lebenslange Sicherheitsverwahrung nicht herumkommen.
6. Zusammenfassung
Die dualistische Vorstellung eines radikal freien, durch die Kausalität nicht beeinflussten Willens ist mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft nicht vereinbar. Andererseits würde ein schlichter physikalischer, also ausschließlich fremdbestimmter Determinismus gravierende Probleme für die Jurisprudenz aufwerfen. Daher sind für (juristische) Probleme im zwischenmenschlichen Bereich die Erkenntnisse der psychologischen Forschung in die Argumentation einzubeziehen: Das menschliche Gehirn besitzt wenigstens drei Mechanismen, um die schicksalsmäßige Abfolge von externen Kausalitäten zum eigenen Vorteil zu modifizieren. Jedes Individuum verfügt dadurch über einen gewaltigen Freiraum mit einem "eigenen" Willen.
Dessen gravierenden Egoismen begegnet die Gesellschaft einerseits, indem sie ein System von einschränkenden Gesetzen und Verordnungen errichtet, also zusätzliche fremdbestimmte Ursachen für das Verhalten vorgibt. Andererseits muss sie mit dem "Prinzip Verantwortung" den menschlichen Verstand und begleitende Emotionen aktivieren und damit eine selbstbestimmte Gegenkraft gegen den natürlichen Egoismus mobilisieren. Verantwortung muss nachhaltig gelehrt und gelernt werden, um eine innere Überzeugung zu generieren und aufrecht zu erhalten.
Der mangelnde Einsatz der persönlichen Verantwortung kann, weil sie von jedem Staatsbürger gefordert werden muss, (ähnlich wie bisher der freie Wille) als eine der Grundlagen der Strafjustiz dienen.
Literatur und Meinungen zur voraufgegangenen Grundlagendiskussion sind ausführlich zusammengestellt in den beiden Anthologien:
Fink, H., und R. Rosenzweig (2006): Freier Wille, Frommer Wunsch? Gehirn und Willensfreiheit. Paderborn: Mentis Verlag.
Geyer, C. (2004). Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp.
Die vollständige Begründung meiner hier vorgestellten Thesen und alle Literaturnachweise finden sich in meinem Buch
Seidel, W. (2009). "Das ethische Gehirn. Der determinierte Wille und die eigene Verantwortung." Heidelberg, Spektrum Akademischer Verlag/Springer
.Literaturnachweis für zitierte Arbeiten:
Damasio, A. R. (2003). Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München: List
Jonas, H. (1979). Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am M.: Insel Verlag.
Achtung: Das Urheberrecht für den Originaltext und die Abbildungen liegt bei der Neuen Juristischen Wochenschrift.
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