Im Altertum und Mittelalter waren die Temperamente ein interessantes Thema, wenn man die Menschen charakterisieren und die Unterschiede zwischen ihnen herausstellen wollte. Man unterschied zwischen Cholerikern, Sanguinikern, Melancholikern und Phlegmatikern. Diese Bezeichnungen sind als – weitgehend angeborene – Verhaltensstile bis in die Neuzeit beibehalten worden. Heute versucht man, diese Einteilungen nach Merkmalen wie Aktivität, Reaktivität, Emotionalität und Soziabilität zu vervollkommnen.
Man kann die Temperamente aber auch (moderner) als übergeordnete Regulationsfunktionen für Psychomechanismen wie Gefühle, Stimmungen oder Motivationen auffassen. Es sind angeborene Anlagen, die ganz wesentlich das prägen, was man Persönlichkeit nennt. Sie überwachen das Verhalten in Abhängigkeit von aktuellen inneren und äußeren Einflüssen. Man hat sie verglichen mit einer generellen Schaltfunktion für die Lampen eines großen Raumes: Jede Lichtquelle kann man zwar gesondert bedienen, aber die Zentrale kann alle zusammen mehr oder weniger dimmen oder auf größte Helligkeit einstellen. Die Temperamente sorgen gemäß dieser Theorie also dafür, dass die vielerlei Ausdrucks- und Reaktionsmöglichkeiten des Gehirns harmonisiert werden, dass sie also alle zusammen einigermaßen einheitlich ablaufen, gemeinsam ein aktuelles Ziel anstreben.
Es gibt wenigstens drei Dimensionen des Temperaments
Bald zeigte sich aber, dass auch dieses Modell in der Realität Schwierigkeiten macht. Es ergeben sich wenigstens drei Ebenen der Regulierung von Persönlichkeitsmerkmalen. Da ist zunächst die Ebene zwischen den Extremen "extravertiert" und "introvertiert". Das Individuum kann man im Vergleich mit den Mitmenschen auf einer Skala einordnen, die beispielsweise von südländischer Offenheit und Lebensfreude bis zu nordländischem Ernst oder gar Schwermut reichen kann. Im Rahmen der individuellen Tagesform kann eine Person ihr Verhalten ebenfalls in gewissen Grenzen zwischen den beiden Eckpunkten verändern. Angeboren ist offenbar nur die typische Stimmungslage, die dann Variationsmöglichkeiten gewährt.
Eine zweite Dimension kann man zwischen den Extremen "keck" und "schüchtern" anordnen. Einer der Befunde aus Untersuchungen über diese Ebene ist für unser Thema interessant: Man kann aus dem Hirnstrombild von Kleinkindern schon vor Vollendung des ersten Lebensjahres ablesen, ob das Kind später schüchtern sein wird. Und schon im Untersuchungsraum konnte der Untersucher voraussagen, ob das Kind schreien würde, wenn die Mutter kurz den Raum verlässt. Auch diese Temperamentslage ist angeboren. Schüchterne Menschen haben in unserer Zivilisation Nachteile. Aber man hat zeigen können, dass man die Schüchternheit überspielen kann. In einem konsequenten Programm mit vielen Einzelaufgaben, deren Schwierigkeitsgrad sich langsam steigerte, der aber immer zu meistern war, hat man in den Kindern viele Erfolgserlebnisse erzeugt und gleichzeitig ihr Wissen und ihre Fertigkeiten deutlich über den Durchschnitt Gleichaltriger gesteigert. Ihr Selbstwertgefühl war bald so hoch, dass die Schüchternheit in den meisten Lebenssituationen als überwunden gelten konnte.
Auch beim Burnout-Betroffenen mag es in manchen Fällen noch möglich sein, das Selbstwertgefühl mit Hilfe von Erfolgserlebnissen wieder aufzubauen. Voraussetzung ist natürlich, dass vorher alle wichtigen Stressoren ausgeschaltet sind. Ein Job- und/oder Ortswechsel ist daher meist zweckmäßig.
Eine dritte Dimension im Bereich der Temperamente hat ebenfalls Konsequenzen für das Burnout-Problem. Gemeint ist die Ebene Optimismus – Pessimismus. Sie fällt allerdings aus dem Schema der bisher geschilderten Temperamente insofern heraus, als Optimismus und Pessimismus nicht die Endpunkte einer linearen Variabilität zu sein scheinen. Wenn jemand immer weniger optimistisch werden würde, würde er nicht schließlich pessimistisch. Es geht bei Optimismus und Pessimismus zwar auch um Lebensgefühle, aber formal auch um zwei verschiedene Konzepte der Zukunftsplanung, während die beiden vorher geschilderten Temperamentsebenen sich mit der Gestaltung des aktuellen Verhaltens befassen und deswegen viel eher als eine Regelung der Stimmungen zu deuten sind.
Optimisten sind erfolgreicher, Pessimisten kritischer
Optimisten bezeichnet man als erfolgsorientiert. Sie streben den Erfolg an und haben auch nachweislich mehr Erfolge als Nicht-Optimisten. Zu den Optimisten dürften viele jener Burnout-Betroffenen zu rechnen sein, bei denen anfangs eine Hyperaktivitäts-Phase aufgefallen war. Optimisten machen Pläne, leben geistig in der Zukunft und sind fröhliche Menschen, weil sie sich schon über die Erfolge freuen, die sie hoffentlich später haben werden. Sie sind aber auch zufriedener als andere, weil sie anlagemäßig jeweils die positiven Aspekte der aktuellen Situation suchen. Sie "denken positiv". Das Extrem ist der Illusionist, der "mit beiden Füßen fest in den Wolken" steht, also ständig Luftschlösser baut – und dann entsprechende Misserfolge einstecken muss. Zu wenig Selbstkritik, die ihnen fehlt, ist offenbar ein Nachteil. Ihnen fehlt eine gesunde Bremse, nämlich (zusätzlich?) ein wenig Pessimismus.
Pessimisten werden charakterisiert als misserfolgsorientiert. Sie versuchen in erster Linie, Misserfolge zu vermeiden. Sie sind folglich immer der Risiken gewahr, die entstehen könnten. Sie sind die typischen "Bedenkenträger" und daher überwiegend ernst bis missmutig. Das Extrem dieser Gruppe ist der Kunktator, der Zauderer, der vor lauter Risikokalkulationen kaum ein Projekt beginnt und natürlich auch nicht so oft Erfolge hat. Aber weil sie zögerlich Gefahren vermeiden, weichen die Pessimisten bis zu einem gewissen Grade auch dem Stress aus.
Man kann den Pessimismus als zentrale Bremsfunktion ansehen: "Warte und überlege noch einmal gründlich!" Vermutlich hat Pessimismus viel mit Selbstkritik zu tun.
Die Leserinnen und Leser werden Schwierigkeiten haben, sich ausschließlich in die eine oder die andere Kategorie einzuordnen. Sie haben in der Vergangenheit mal mehr in die eine, dann mehr in die andere Richtung tendiert, haben mal mehr optimistisch leichtsinnig, mal doch mehr pessimistisch zurückhaltend gehandelt. Offenbar haben wir es mit zwei prinzipiell unterschiedlichen, einander entgegen gerichteten Lenkprinzipien zu tun, von denen das Individuum je nach aktueller Lebensstrategie Gebrauch machen kann, die aber in unterschiedlicher Stärke angelegt sind und entsprechend die Persönlichkeit formen.
So meine ich zum Beispiel, dass ein Chirurg beide Anlagen gut ausgeprägt mitbringen muss: Ohne einigen Optimismus würde er sich nicht entscheiden, eine schwierige und verantwortungsvolle Operation überhaupt zu beginnen. Er muss an den Erfolg glauben und muss ja auch dem Patienten, der das spürt, Mut machen. Aber er muss vor und während seiner Arbeit alle Risiken auszuschließen trachten. Beides muss er grundsätzlich anstreben, also nicht nur, wenn er sich das grade vornimmt. Eine rein verstandesmäßige Handlungsstrategie würde nicht ein Leben lang mit Erfolg durchgehalten werden können.
Beim Burnout-Betroffenen dürfte vor Beginn des Prozesses die optimistische Tendenz häufig im Vordergrund stehen, nämlich in der hyperaktiven Phase. Im Verlauf des Prozesses gewinnen dann aber die Kritik und überhaupt eine pessimistische Einstellung den Vorrang. Schließlich kann Pessimismus zur beherrschenden Überfunktion ausarten. Die Selbstkritik wird strikt negativ und übermächtig.
Die Strategie der Optimisten ist: "positiv denken"
Der Psychologe M. Seligman hat Optimisten vielfach untersucht. Er hat für deren Erkennung Fragebogen ausgearbeitet. Als eines der auffallenden Kriterien fand er, dass Optimisten zwar größere Risiken eingehen mit der typisch optimistischen Einstellung "es wird schon alles gut gehen", und daher nicht selten Misserfolge haben, dass sie damit aber sehr gut fertig werden. Das konnte er nach vielen Untersuchungen dadurch erklären, dass Optimisten sich ganz überwiegend mit denjenigen Ursachen ihrer Misserfolge beschäftigen, die sie selbst zu vertreten haben. Sie lernen dann daraus.
Wer sich dagegen nach seinem Versagen über die Politik und das Wetter oder über die Einflussnahme anderer Menschen Gedanken macht, die nachteilig, aber nicht zu ändern sind, ärgert sich unnötig und vertut nur Zeit. Wer sich dann auch noch in unproduktiven Schuldzuweisungen verstrickt, entwickelt unnötige Aggressionen oder Frustrationen. Sie behindern seinen Gedankenfluss, drücken seine Stimmung und reduzieren seinen Erfolg. Das ist dann nicht nur Temperamentssache.
Beim Burnout findet man ungerechtfertigte Schuldzuweisungen gegen andere als typisches Symptom in der Anfangsphase (Tabelle 3, S.xx). Dann ist oft schon das ganze Weltbild (unrealistisch) pessimistisch geworden.
Selbstkritik muss man nutzen, um besser zu werden
Es geht hier – wohlgemerkt – nur um die eigenen Misserfolge. Optimismus wird dadurch zu einer Frage der positiv tendierenden Selbstkritik.
Allen Gesunden (!) kann man nur raten, sich diese optimismus-gesteuerte Selbstkritik anzugewöhnen. Man muss also den eigenen Fehlern offen ins Auge sehen, weil man daraus am meisten lernen kann.
Alle Schuld des "Schicksals" oder der Mitmenschen ist demgegenüber zweitrangig. – obwohl man daraus ja auch lernen kann.
Dem vom Burnout Betroffenen möchte man eine Strategie wünschen, mit der er leicht über Misserfolge hinwegkommt, ohne sie einfach zu verdrängen. Nun liegt ein gewisses Risiko darin, einem Burnout-Gefährdeten die vorrangige Beschäftigung mit den eigenen Fehlern nahezulegen. Wir hatten ja diskutiert, dass aus seiner Selbstkritik leicht die Selbstzweifel oder Schuldgefühle erwachsen können, die dann sein Selbstwertgefühl erschüttern.
Äußerst wichtig ist also, gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass es bei jeder Selbstkritik darum gehen muss, besser werden zu wollen.
Man muss darlegen, dass die Analyse des eigenen Missgeschicks gezielt angezeigt und sinnvoll ist, um Erfahrung zu sammeln, um sicherer zu werden, letztlich um das Selbstbewusstsein nachhaltig zu stärken. Diese Umdeutung der Situation ist eine allgemein bewährte Taktik des sogenannten problemorientierten Copings, also eine Bewältigungsstrategie, die nun gezielt auf die Selbstzweifel ausgerichtet werden soll.
Übrigens wurde beim Temperament auch eine Achse stabil – labil als vierte Ebene vorgeschlagen. Die Burnout-Betroffenen würden dieser Theorie nach ihre Stabilität verlieren, unsicher werden und aus eigener Kraft nicht zurückfinden. Man kennt zwar eine entsprechende mentale Funktion als Unbeirrbarkeit oder besser als "Willensstärke". Sie spielt eine wichtige Rolle in der Endphase von jedem Entscheidungsprozess: Wenn man eine Entscheidung schließlich gefällt hat, ist man für neue, ablenkende Argumente kaum noch zugänglich, sondern führt den einmal gefassten Entschluss auch konsequent durch. Auch diese Funktion ist beim Burnout gestört. Aber das interessante Phänomen bringt beim Bemühen um Hilfe nicht weiter.
Es ist offensichtlich, dass dem Gefährdeten häufig ein erfahrener Coach zur Seite stehen sollte.
Das Feld der Erfolgs- und Misserfolgsorientierung und der jeweils aufkommenden Kritik und Zweifel ist weit und ist interessant. Es ist aber auch riskant, weil Selbstkritik schwer zu kontrollieren ist. Wir hatten schon betont: Kritik ist offen für Änderungsvorschläge, Skepsis kaum noch. Zweifel sind es dann nicht mehr.
Selbstzweifel sollte der Burnout-Betroffene schriftlich aufarbeiten
Damit komme ich zu einem entscheidenden Abschluss von Erörterungen, die ich in den voraufgegangenen Kapiteln schon zum Thema Selbstkritik angestellt hatte.
- Im Kapitel 2 war herausgestellt worden, dass Selbstzweifel die eigenen Fähigkeiten infrage stellen. Sie werden von sehr vielen äußeren Einflüssen genährt. Wenn das eigene Können geringer gewertet wird, als man es für die bisherige Lebensstrategie voraussetzte, kann Hoffnungslosigkeit aufkommen (Abbildung 4 S. xx).
- In Kapitel 4 war dann zu erkennen, dass die Selbstzweifel sogar am eigenen Weltbild, also am persönlichen Orientierungsrahmen nagen und Unsicherheit erzeugen.
- Dass negativ eingestellte Kritik auch die Motivationen (über die Stimmung) versiegen lassen kann, wurde in Kapitel 7 ausgeführt (Abbildung 10 S. xxx).
- Und ich hatte in Kapitel 6 im Zusammenhang mit der Vorbeugung von Herzinfarkten gezeigt, dass man mit eben diesem Verstand auch Denkfehler auflösen kann. Das geht noch Wochen oder Monate später. Es sollte aber auf jeden Fall schriftlich gemacht werden, weil man sich sonst zu leicht mit oberflächlichen Gedanken zufrieden gibt.
- Es dürfte klar geworden sein, dass es unser eigenes, nun gegen uns selbst gerichtetes Denken (!) ist, was hier zwar von anderen beeinflusst sein kann, das aber in unseren eigenen Einstellungen und Vorstellungen Schaden anrichtet.
Die schriftliche Aufarbeitung, die einen so gewaltigen Erfolg beim psychischen Stress zu erzielen vermag, sollte man dann auch bei der Aufarbeitung von Zweifeln und insbesondere von Selbstzweifeln einsetzen.
Das kann man jeden Tag machen, gegebenenfalls auch anlässlich eines Sanatoriumsaufenthaltes. Man kann den Betroffenen auf sein natürliches Kausalitätsbedürfnis ansetzen. Jeder hat es, und hier könnte man es zur Perfektion treiben. Die Ausarbeitungen würden an Beweiskraft und damit an Wirksamkeit gewinnen.
Die Beschäftigung mit dem Temperament brachte somit einerseits den Hinweis auf die geeignete Strategie bei Misserfolgserlebnissen. Andererseits kann daraus die Warnung vor dem Abgleiten wohlgemeinter Kritik in Selbstzweifel abgeleitet werden. Die Gefahr ergibt sich sowohl für den Optimisten, bei dem ich sie erörterte, wie für den Pessimisten, der von vornherein zu Kritik und Zweifeln neigt.
Im nächsten Kapitel werde ich zunächst noch einmal auf die Möglichkeiten zur Diagnose eines Burnouts hinweisen. Dann sollen allgemeine, etablierte Maßnahmen zur Vorsorge erwähnt werden, ehe ich einige Methoden zur Selbsthilfe im Sinne der Verhaltenstherapie erkläre. Am Schluss des Kapitels werde ich dann einen Überblick über die Möglichkeiten zur Hilfe oder Vorsorge geben, die sich aus dem in diesem Buch Besprochenen ergeben.
Und nun mit wenigen Worten noch mal das Wichtigste aus Kapitel 8:
- Die Temperamente können als übergeordnete Schaltfunktionen aufgefasst werden, die mehrere psychische Programme gleichsinnig und gleichzeitig regeln und somit harmonisieren.
- Eine Grundtendenz des Temperaments ist zusammen mit der Regelfunktion angeboren, entsprechendes Verhalten also für das Individuum typisch. Die Tagesform kann damit variiert werden.
- Eine Funktion des Temperaments regelt das Verhalten zwischen "extravertiert", also offen und lebhaft einerseits und "introvertiert", also verschlossen andererseits.
- Auf der Ebene "keck" – "schüchtern" haben letztere Eigenschaften Nachteile. Man kann die angeborene Tendenz im Hirnstrombild (EEG) erkennen.
- Ein Trainingsprogramm, das schrittweise aufbauend für Können und für Erfolgserlebnisse und damit für Selbstbewusstsein sorgt, kann diesen Kindern helfen.
- Optimismus und Pessimismus regeln die Zukunftsorientierung im Sinne von leichtsinnig, mutig, schnell entschlossen einerseits und kritisch, vorsichtig andererseits. Wahrscheinlich sind es zwei getrennte Funktionen.
- Nach Misserfolgen ist die Kritik des Optimisten auf die eigenen Fehler zentriert, ist also überwiegend eine Selbstkritik. Das erzeugt den Vorsatz zum Lernen und eröffnet die Möglichkeit zur Besserung.
- Selbstkritik könnte bei dem Burnout-Betroffenen aber zu Zweifeln führen und nachteilig sein. Sie sollte also (vom Fachmann?) überwacht werden.
- Dem Burnout-Betroffenen sollte daher empfohlen werden, seine Kritik schriftlich aufzuarbeiten, und zwar mit positiver Einstellung auf Mehrung der Erfahrung, also mit Hoffnung auf Erfolgserlebnisse beim Lernen.
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