1. Schlusskapitel
Diese ursprüngliche Zusammenfassung und Beurteilung des Inhalts ist nicht im Buch enthalten.
Die Anpassung an das moderne Leben wird immer schwieriger
Burnout ist ein neuartiges Phänomen. Vor gut 40 Jahren fiel es auf, zunächst bei Lehrern und Krankenschwestern. Die rasche Zunahme auch in anderen Berufen löste eine Flut von Untersuchungen und Veröffentlichungen aus. Als Ursache wurde Stress im weitesten Sinne ausgemacht, ferner Ängste und Erschöpfung. Besonderheiten der Arbeitsumgebung haben offenbar nur eine Nebenrolle. Persönlichkeitsfaktoren der Betroffenen können einen richtunggebenden Einfluss haben. Es wird noch untersucht, ob Burnout letztlich doch als Krankheit einzustufen ist. Grundsätzliche Einigkeit besteht darüber, dass der Prozess verursacht wird durch heutige Arbeits- und Lebensbedingungen. Damit handelt es sich um eine Zivilisationsfolge, vielleicht eine Zivilisationskrankheit.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben sich bislang im Wesentlichen mit den Ursachen und mit der Analyse des gewaltigen symptomatischen Materials befasst. Trotz der Bemühungen von mehreren tausend Forschern sind gesicherte Fakten zum Phänomen des Burnout rar. Das könnte durchaus daran liegen, dass man mehrere pathogenetische Varianten über einen Kamm geschoren hat. Was an Befunden gesichert ist, und was nicht eindeutig genug korreliert, habe ich in der Tabelle 8 zusammengestellt.
Was meint man zu wissen?
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Was korreliert nicht gut?
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· Zivilisation der Neuzeit ist Ursache: IKT
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· Es gibt keine typische Persönlichkeit (aber Anlagen)
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· Lärmpegel in der Schule ist Hauptstress, aber nicht direkte Ursache: die Aufmerksamkeit ist überlastet
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· Es gibt keinen typischen Beruf: in rund 60 Berufen trat Burnout auf. Häufung bei Lehrern und Krankenschwestern
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· Erschöpfung durch hohe Leistungsdichte
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· Länge der Arbeitszeit: nicht typische Ursache
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· psychischer Stress: Ängste, IKT-Hektik
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· Monotonie der Arbeit: nicht typische Ursache
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· menschliche Betreuung hilft im Frühstadium
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· dto. nicht geistige oder körperliche Schwere der Arbeit
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· normale Hektik ist keine wichtige Ursache
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M Mobbing führt nur selten zu Burnout
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Tabelle 8: Fakten zum Burnout (nach Daten von Burisch) Obwohl der Prozess sehr häufig vermutet und diagnostiziert wird, sind wirklich bewiesene Befunde selten. „Was meint man zu wissen?“: Dies sind Angaben aus der Literatur. Einige Ursachen sind wenigstens statistisch gesichert, genügen aber noch nicht zur Abgrenzung eines einheitlichen Krankheitsbildes. "Was ist nicht nachgewiesen?" Ebenfalls Angaben der Literatur. Bei einigen ursprünglich verdächtigten Ursachen des Prozesses konnte statistisch ausgeschlossen werden, dass sie typisch oder herausragend wichtig sind. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass sie dennoch Wirkungen im Krankheitsprozess haben. Die Tabelle berücksichtigt nur bedeutsame Informationen, erhebt folglich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Größere Freiheit und vielfältige Technik verstärken den Stress
Wenn die Ursachen für das Auftreten von Burnout in Veränderungen unserer Welt zu suchen sind und offensichtlich ausgerechnet in den letzten vier Dekaden lawinenartig zunahmen, muss man diese Zeitspanne daraufhin untersuchen:
Am Beginn dieser Zeit, also um die Periode der 68er-Bewegung, kam es zu einer tiefgreifenden emotionalen Isolierung des Individuums. Der gesellschaftliche Druck zur Selbstständigkeit wurde begründet mit der Freiheit des Menschen zur individuellen Selbstverwirklichung. Die Möglichkeit zum Leben in der Anonymität wurde und wird von vielen begrüßt. Die Bewegung wurde bekämpft, weil sie die familiären Bindungen zerstört und alle traditionellen Leitstrukturen schwächt oder entfernt. Viele Werte wurden im Rahmen eines fortschreitenden Pluralismus relativiert und taugen nicht mehr als seelischer Halt. Das muss vereinsamen und verunsichern. Diese Befürchtungen könnten sich jetzt als gerechtfertigt erweisen.
Später, in den letzten beiden Jahrzehnten haben die neuen technischen Entwicklungen, besonders die Informations- und Kommunikations-Technologie (IKT), die übliche Beschränkung beruflicher Aktivitäten auf die Arbeitszeit gesprengt. Die Bedienung der ständig dienstbaren Geräte erfordert auch die ständige, deutlich intensivierte Aufmerksamkeit. Der tägliche Stress hat nicht nur im Arbeitsleben spürbar zugenommen.
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte bietet also genügend Voraussetzungen dafür, dass sich bei immer mehr Menschen das Phänomen Burnout entwickeln könnte als Resultat gesteigerter Belastungen und Anforderungen sowie einer schleichenden Dekompensation ihrer mentalen Anpassungsbemühungen.
Außer nach dem "Warum?" auch nach dem "Wie?" fragen
Der pathogenetische Weg in den Burnout, also der an der Krankheitsentwicklung beteiligte geistige Prozess ist sehr komplex und variabel. Zweckmäßig ist zu trennen zwischen einer "typischen" Stressreaktion, die häufig und reversibel ist, und einer progredienten Persönlichkeitsveränderung. Nach diesem "Burnout im engeren Sinne" ist meist keine Arbeitsfähigkeit mehr zu erreichen.
Beim Versuch einer verständlichen Erklärung ist man immer von der Frage "warum?" und damit vom psychischem Stress ausgegangen. Vordergründig denkt man dann an Hektik, Aggressionen und das Multitasking, ferner an direkte Aggressionen aus der Umwelt einschließlich Mobbing und an psychische Belastungen durch die individuelle Selbstständigkeit mit der Notwendigkeit ständiger Entscheidungen für die eigene Zukunft.
Interessant, aber schwerer zu durchschauen sind deren Folgen, also die Antwort auf die Frage "wie?": Wie werden die Funktionen des Gehirns überfordert? Wie reagieren und versagen sie?
Die Stressfolgen erreichen die zentralen Mechanismen der menschlichen Psyche. Dies sei in Abbildung 1 kurz skizziert. In deren Mitte ist die überwiegend kognitive Störung des Selbstbewusstseins über Selbstzweifel und Verunsicherung dargestellt. Hier wird der Kern der Persönlichkeit direkt getroffen. Man erkennt aber seitlich auch zwei emotionale Pfade der Störung: über Ängste einerseits und über das System "Stimmungen und Motivationen" andererseits.
Abb. 1: Drei Hauptpfade führen in die Endphase des Burnout. Stärkster Stress in irgendeiner Form ist immer ursächlich beteiligt (oben). Ausführlich wurde im Text geschildert, wie er über Selbstzweifel und Verunsicherung das Selbstbewusstsein schädigt, wenn durch fehlende Gegenregulierung ein Teufelskreis entstehen kann (Mitte). Links wird auf das emotionale System „Stimmungen und Motivationen“ hingewiesen, das letztlich zu Apathie und Depression führt. Rechts führen Ängste zu Verunsicherung, aber auch zu einer schweren Beeinträchtigung des „inneren Weltbildes“. Die drei Hauptpfade sind Teil eines Netzwerkes von Psychomechanismen. Die dargestellten Verbindungspfeile sind nur Beispiele. Im Text sollte offenbar geworden sein, dass nahezu jeder der dargestellten Faktoren auf jeden anderen irgendwie einwirken könnte, eventuell wenigstens indirekt. Der Betrachter ist eingeladen, sich derartige Wirkungen auszusuchen und zu begründen. Weitere Zustände und Mechanismen könnte er hinzufügen. Verschiedene Kombinationen von Stressoren einerseits und individuellen Anlagen andererseits resultieren letztlich in unterschiedlichen Symptomen und Verläufen.
Dem zentralen Selbstbewusstsein/Selbstverständnis (weiter unten in Abbildung 1) ist ein Komplex von grundsätzlichen Einstellungen zugeordnet, in denen der Mensch seine persönlichen Positionen zur Umwelt festlegt (sog. „inneres Weltbild“ ). Diese intime Vorstellung von sich selbst, die man auch als „Selbstkonzept“ bezeichnet, ist die Richtschnur für alle Motivation, also für das Wünschen und Wollen, und bestimmt damit auch ganz wesentlich das Verhalten. Sie rekrutiert sich aus den integrierten Einstellungen und Prinzipien, aber auch nur aus Erfahrungen und Lebensweisheiten aller Art – einschließlich der mit ihnen gekoppelten persönlichen Bewertungen. Das innere Weltbild legt das „Soll“ für viele Erfolgsbeurteilungen fest. Ihre Beeinträchtigung hat gravierende Folgen.
Das „innere Weltbild“ wird gestützt vom Selbstwertgefühl. Das ist tatsächlich eine Grundstimmung, die aus emotionalen Bewertungen der vielen Informationen und Erlebnisse resultiert, die in das (eher verstandesmäßig gedachte) „Selbstkonzept“ einbezogen sind. Diese Stimmung prägt dann wesentlich den Inhalt und Wert des Selbstbewusstseins. (Ich hatte die Untrennbarkeit aller rationalen Begriffe und Einstellungen von den zugehörigen emotionalen Bewertungen in Kapitel 5 dargelegt. Die Abb.6 ist im Anhang noch mal angefügt.)
Wenn Ängste das Zentrum der Persönlichkeit beherrschen
Wenn nun den emotionalen Bewertungen eine derart zentrale Stellung in den wichtigsten Funktionen des Gehirns zukommt, kann nicht verwundern, dass Ängste aller Art, die ja ihre Ursache als irgendwie gefährlich bewerten, auf das Selbst des Individuums und auf sein Verhalten einen dominanten Einfluss ausüben. Angst wird als das wichtigste primäre Gefühl aller Lebewesen angesehen. Jede Leserin, jeder Leser kennt solche Ängste und Verunsicherungen wenigstens im Prinzip. Starke Ängste können wesentliche Verstandesfunktionen mehr oder weniger blockieren (vgl. Abbildung 8 im Anhang)
Es liegt nahe, entsprechende Verängstigungen auch für Wesensänderungen wie Burnout verantwortlich zu machen, sofern sie langfristig und gehäuft einwirken. Diese Ängste verändern ja mit der Bewertung aller zentralen Einstellungen auch alle daran gekoppelten Reaktionen und Entscheidungen. Wenn die Grundmatrix der Persönlichkeit durch Ängste eingefärbt wird, beeinflusst das alles Verhalten.
Da der Schauplatz von Burnout die Persönlichkeit ist, hat man nach einer für Burnout prädisponierenden Persönlichkeitsstruktur gesucht. Eine solche konnte allenfalls für das Lehramt in Schulen wahrscheinlich gemacht werden. Der Einfluss angeborener Konfliktpotentiale wurde sehr bald ganz allgemein im beruflichen Umgang mit gestressten Menschen, also z. B. mit Krankenhauspatienten, mit anvertrauten Kindern oder mit Kunden vermutet. Partner, die eigenständig und hochvariabel agieren, bedeuten immer Stress. Ich sehe eine wesentliche Belastung auch in der mit dieser Aufgabe verbundenen Verantwortung. Sie zielt immer in die Zukunft. Sie ist immer ungewiss. Das bedeutet immer Risiko für den Verantwortlichen und entfacht bei entsprechend veranlagten Menschen Ängste.
Einen interessanten Einblick bieten Befunde über Persönlichkeitskonstellationen von Menschen, die dem Burnout offenbar nicht oder selten unterliegen. Hierzu zählen bezeichnender Weise Menschen, die in (religiösen) Gemeinschaften fest verwurzelt sind oder sonst weltanschaulichen Halt haben. Offenbar können ihre Selbstsicherheit und ihr Glaube den Anfechtungen einer allfälligen Unsicherheit und auch lang anhaltenden Zweifels genügend Widerstand bieten. Gewappnet sind wohl auch Menschen, die die Schwierigkeiten, die zur Verunsicherung führen könnten, im Voraus nüchtern in ihre Lebensplanung einbeziehen. Sie verfügen über genügend Abwehr- und Regenerationskräfte, um die Folgen der Überlastung wieder auszugleichen.
Wenn sich Zweifel an den eigenen Fähigkeiten festsetzen
Der Kern der Persönlichkeit, das zentrale "Selbstkonzept", ist also geprägt durch das Selbstwertgefühl. Dieses Leitgefühl für das Denken und Handeln wird in diesem Buch als wichtige Schaltstelle beim Burnout angesehen. Der Persönlichkeitskern wird durch Selbstzweifel und Ängste erschüttert und untergraben. Die Selbstzweifel ihrerseits gedeihen vermehrt bei Überlastung oder Erschöpfung.
Wer das Schwinden seiner Kräfte verspürt, bekommt bohrende Zweifel gerade auch, wenn sich diese Selbstzweifel gegen die eigenen Fähigkeiten richten. Das führt zur Verunsicherung bezüglich der eigenen Kompetenz, den Anforderungen der anstrengenden und aggressiven sozialen Umwelt gewachsen zu sein. Das frühere Bewusstsein der eigenen Stärke schwindet.
Eigentlich, beim Gesunden, sollte die Selbstsicherheit doch Selbstzweifel auszuräumen helfen: Wer sich seiner Sache sicher ist, lässt auch keine Zweifel an seiner Befähigung zu. Nun, im Burnout-Prozess, kann die gedrückte Selbstsicherheit die Ursache eines Teufelskreises werden, kann zu einer „positiven“ (weil verstärkenden) Rückkopplung in einer wichtigen psychischen Regelungsbeziehung führen: Je größer die Unsicherheit, desto größer und häufiger werden auch die Selbstzweifel, und diese ihrerseits vergrößern dann wieder die Unsicherheit (vgl. Abbildung 10 unten im Anhang).
Schlechte Stimmung und fehlende Motivation verstärken den Abwärtstrend
Die um sich greifende persönliche, unbewusste Verunsicherung hat direkte Auswirkungen auf das Verhalten. Wichtiger jedoch sind Beeinträchtigungen der Stimmung, des guten Gewissens und damit auch der ungerichteten Motivation. Die Stimmung kann durch viele äußere Einflüsse, aber auch durch Erinnerungen und andere innere Motive positiv wie negativ beeinflusst werden. Das Selbstwertgefühl kann man auch als eine Stimmung auffassen. Sie ist ein Teil „der“ Stimmung der Persönlichkeit. Da Stimmung und Motivation gekoppelt sind, kann sich von hier aus eine allgemeine, „ungerichtete“ Antriebsschwäche ausbreiten, wie sie letztlich ein Charakteristikum der Depression ist.
Das Charakteristikum des ausgeprägten Burnout sind diese Antriebsschwäche und Stimmungsschwankungen aller Art. Die Leserinnen und Leser konnten das an den Tabellen 3 und 4 nachvollziehen. Fast die gesamte Symptomatologie kann man auf diese beiden Hauptmerkmale zurückführen. Entstehung und Verlauf weisen allerdings eine Fülle von Variationen auf.
Diese Kurzdarstellung soll nun für Konzepte zur Vorbeugung und Hilfe genutzt werden.
Kenntnis der ursächlichen Prozesse ermöglicht Hilfemaßnahmen
Hilfe in allen schweren Burnout-Fällen muss mit dem Ausschalten der ursächlichen Stressoren beginnen.
• Dem ursächlichen Stress für die Psyche wird man in allen fortgeschrittenen Fällen nur erfolgreich ausweichen können mit einem radikalen Wechsel des Arbeitsplatzes oder besser mit einem ganz anderen Job.
• Kognitive Probleme, in denen also der Verstand eine führende Rolle spielt, kann man wohl am wirksamsten durch schriftliche Aufarbeitung auflösen. Hierhin gehören Konflikte im Rahmen von Stress wie auch Argumentationen im Zusammenhang mit der Selbstkritik und mit der Verunsicherung. Begleitende Gespräche sind wichtig, schon um mit Hilfe eines Neutralen herauszufinden, was denn das Problem verursachen konnte, und wo sich Lösungen anbieten.
• Im emotionalen Bereich hat sich menschliche Wärme überzeugend bewährt. Sozial kompetente Umsorgung kann mit vielfältigen Hilfen zum (emotionsbezogenen) Coping kombiniert werden.
• Die psychosoziale Betreuung sollte sich auch auf eine Korrektur der emotionalen Falschbewertungen erstrecken, also auf emotionale Marker an vielen Einstellungen zu Arbeitsbedingungen oder zu Kollegen, die der Betroffene im Rahmen von Frust und Bitternis ins Negative gewandelt hatte. Negative Bewertungen und Gefühle wären dem Betroffenen hinderlich, wenn er die Welt wieder normal sehen soll. Ängste sind aufzuspüren und möglichst durch schriftliche Aufarbeitung aufzulösen.
• Verhaltensänderungen, die sich eingeschliffen haben, können mit den bewährten Mitteln der Verhaltenstherapie umtrainiert werden, sobald sich eine ausreichende Krankheitseinsicht eingestellt hat. Aber das Neu-Lernen erfordert viel Zeit und Ausdauer.
Wer das Problem durchschaut, sollte auch vorbeugen
Vorbeugen ist natürlich besser als Heilen. Die Maßnahmen sind letztlich die gleichen, nur der Zeitpunkt der Prophylaxe liegt viel früher. Für die mittelfristige Planung der allgemeinen Zukunft ergeben sich vier grundsätzliche Forderungen:
1. Die technischen Einrichtungen müssen sorgfältig darauf ausgerichtet werden, den Nutzern möglichst viel Stress abzunehmen, anstatt ihn zu mehren.
2. Zum anderen muss die Menschheit ihre technischen Mittel weiser gebrauchen. Soweit die Technik Stress verursacht, darf sie nur rationiert genutzt werden, auch wenn die Überlastung (etwa durch die multifunktionalen SmartPhones) zunächst Spaß verspricht.
3. Die Menschen müssen vor einer Tätigkeit mit bekannter Belastung gezielt getestet und beraten werden. Bei der Berufswahl muss ganz klar die (psychologische) Eignung im Vordergrund stehen. Die Arbeitswelt muss mittels geeigneter Organisationsformen mehr Rücksicht auf die Schwächeren nehmen.
4. Außerordentlicher psychischer Stress ist nicht immer vorauszusehen, nicht immer zu vermeiden. Deshalb sollte eine geeignete Aufklärung und Schulung angestrebt werden. Sie sollte sich nicht auf die bekannten Maßnahmen (Tab. 1 im Anhang) beschränken, sondern möglichst viele aktive Möglichkeiten zur Vorbeugung berücksichtigen (Tab. 7 im Anhang).
Die Umorientierung auf derartige Grundsätze mag lange dauern. Bis dahin wird man z. B. das Smartphone und die anderen Kommunikationssysteme zeitweilig abschalten, wird wirkliche Ruhepausen einlegen, wird Multitasking als eine Ausnahme-Arbeitsweise ansehen, wird sich des Optimismus und des positiven Denkens bewusster noch als heute befleißigen. Die Leserinnen und Leser meines Ratgebers haben sich dergleichen schon vorgenommen, hoffe ich.
Man kann sich diejenigen Menschen zum Vorbild nehmen, die Burnout nicht bekommen. Ich habe einige Konstellationen schon erwähnt. Hinzufügen möchte ich, dass es wohl weise ist, aktiv die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften wie Familie, Freundeskreise oder Vereine anzustreben und zu pflegen. Vielleicht ist das der Königsweg zu künftiger psychischer Gesundheit und Stabilität.
Meine Feststellungen bedeuten nicht, dass alle Menschen direkt gefährdet sind, auch nicht nur alle Berufstätigen und Arbeitslosen. Es gibt auch in psychischer Hinsicht mehr oder weniger Widerstandsfähige, so wie es im Gesundheitsbereich Menschen gibt, die viel rauchen und essen und ohne Sport dennoch gesund bleiben. Aber es ist sehr riskant, sich auf eine derartige Konstitution zu verlassen.
Die Mehrheit ist gut beraten, Mäßigung zu üben, um sich eine möglichst hohe Lebensqualität zu erhalten – jetzt auch in psychischer Hinsicht.
2. Anhang = zugehörige Abbildungen
In der Zusammenfassung wird auf Abbildungen im voraufgegangenen Text verwiesen. Für diejenigen, die das Buch gerade nicht zur Hand haben, zeige ich hier die entsprechenden Folien.
Abb. 6: Emotionale Marker: Jeder rationale, also vom Verstand behandelte Gedächtnisinhalt (hier "Wurstbrot", Hintergrund schraffiert), wird (über eine sogenannte Konvergenzzone z. B. im Hippocampus oder im Präfrontalhirn) in den jeweiligen Abspeicherungsorten der Großhirnrinde aktiviert. Dadurch wird er „im geistigen Vorstellungsraum präsentiert“, also denkbar. Aber immer wird eine emotionale Bewertung ("mag ich sehr", grau hinterlegt) aus dem Gefühlszentrum, der sogenannten Amygdala, hinzugefügt, sobald das Individuum eine gewisse persönliche Beziehung zu dem Inhalt entwickelt hat. Es kann sich um Begriffe, Gegenstände, Personen oder Ereignisse handeln. In der Kombination von Informationen und ihren subjektiven Bewertungen wird der Gedanke im Gehirn z. B. bei Entscheidungen verwendet. Alles Denken, alle Handlungen des Menschen sind daher subjektiv, also durch seine Gefühle mitbestimmt.
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Abb. 8: Angst ist ein besonderer Stressor: Leichte Angst erhöht die Aktivität und damit auch die Leistungsfähigkeit. Mittelstarke Angst z. B. vor Strafe oder vor dem Versagen in einer Prüfung steigert die Zahl von Fehlern. Große Angst führt zu einer affektiven Denksperre: Wenn Emotionen stärker werden, beeinträchtigen sie die Funktion des Verstandes. Das gilt nicht nur für die Angst. Auch starke Wut oder Trauer machen "blind". Bei sensiblen Individuen kann sich die Fehlerrate schon bei sehr geringer Angst einstellen (punktierte Linie). Gefühlsarme (gestrichelte Linie) werden dagegen kaum nachteilig in ihrer Leistung beeinflusst. „Starke Nerven“ werden z. B. von Flugzeug- oder Formel-1-Piloten erwartet, also ein von Emotionen wenig beeinflusstes, „nüchternes“ Denken.
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Abb. 10: Die ungerichtete Motivation XE "Motivation, gerichtete" ergibt sich bei guter Stimmung: Wenn mit dem Verstand (kognitiv) eine Aufgabe geplant wird, werden die inneren Einstellungen als Maßstab beachtet. Es ergibt sich ein Soll. Die resultierende Handlung (Aktion) wird der Selbstkritik unterzogen (rechts oben). Dadurch wird das Ist ermittelt. Ist das Ergebnis des Abgleichs positiv, entsteht ein Erfolgserlebnis, das mit Hilfe des Belohnungszentrums und seiner Botenstoffe von guter Stimmung begleitet wird (unten). Die gute Stimmung schafft allgemeine Lust auf weitere Aktivitäten, also eine ungerichtete Motivation. Wenn das Ergebnis des Abgleichs von “Soll“ und Ist schlecht ist, also kein Erfolg registriert wird, ist auch die Stimmung schlecht, die Motivation entfällt. Vermehrte Selbstzweifel (z. B. beim Burnout) können den Abgleich negativ beeinflussen, also auch die Stimmung und die Lust auf Aktivitäten verderben.
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Tabelle 1: Was kann ich an meinem Verhalten ändern, wenn Burnout droht?
- Prioritäten setzen und Grenzen ziehen: „Was muss ich wirklich?“
- Rationelle Zeiteinteilung, aber kein Multitasking. To-do-Listen. Regelmäßige kleine Pausen machen und zur Entspannung nutzen.
- keinen Perfektionismus pflegen, Ideale zurückstecken, Bürokratismus hinterfragen.
- Kontrollverlust vermeiden: Arbeitsumfeld optimieren oder reorganisieren.
- Probleme ansprechen, Konsens oder Kompromiss anstreben, Alternativen erwägen.
- Vorgaben realistisch formulieren, Einwände herausfordern und diskutieren.
- Den eigenen Rhythmus beachten, entspannen, Freizeit und Geselligkeit einplanen. Hobby und Erholung sollen nicht in Stress ausarten, auch wenn der Spaß macht.
- Work-Life-Balance: Nicht nur Arbeit, auch Sport und Muße müssen sein. Kultur als Gegengewicht (für den ganzen Menschen)!
- Mitmenschen: Immer den Kontakt suchen. Wer ist wirklich mein Freund?
- Zusammengefasst: Aktiv etwas ändern und nicht (passiv) etwas vermeiden!
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Tabelle 7: Möglichkeiten zur Vorbeugung und Hilfe gegen Burnout
- Aufmerksamkeit nicht überlasten, Handy auch mal ausschalten, nicht ständig laute Musik hören
- kein Multitasking; To-do-Listen mit großzügigen Zeitvorgaben
- bei Gefahr von Autonomieverlust mehr Selbstständigkeit zugestehen
- Stressoren ausschalten; Hilfe von Kollegen; evtl. Job wechseln, „etwas Neues probieren“
- Pflichtbewusstsein: dem schlechten Gewissen vorbeugen durch realistischere Ansprüche an sich selbst
- Probleme schriftlich aufarbeiten: Aktennotiz, Brief, Tagebuch
- innere Emigration: nüchtern reagieren, nicht emotional
- falsche emotionale Marker korrigieren, Ursachen der Gefühle erkunden
- die fünf „Antreiber“ (siehe S. ***) überprüfen, nicht übertreiben, evtl. Intensität zurücknehmen
- sozialisierende Maßnahmen ergreifen, menschliche Fürsorge suchen
- Zweifel: Ursachen ergründen, schriftlich aufarbeiten
- Coping: Probleme bewältigen durch den eigenen Verstand oder einen Coach oder eine Verhaltenstherapie
- Zweifel durch Hoffnung ersetzen, positiv denken
- Sinnverlust: Erfolgserlebnisse vermitteln, Belohnungszentrum bemühen
- Stimmung aufhellen: richtige Annahmen, kleine Annehmlichkeiten
- Antriebslosigkeit bekämpfen: Aufgaben für angeborene Bedürfnisse vollständig ausführen
- Selbstwertgefühl steigern durch Erfolgserlebnisse, Aufgabenschwere schrittweise steigern
- Optimismus: positiv denken, bei Misserfolgen vorrangig eigene Fehler durchdenken
- Pessimismus: Kritik nur zur Leistungsverbesserung, schriftliche Bearbeitung
- wenigstens eine gute Tat pro Tag zusätzlich, evtl. Liste, abends nachlesen
- zielführende Angewohnheiten bewusst trainieren, mit Helfer oder professionellem Coach
- Unterstützung durch Gesundheitszirkel, Meditation, Selbsthilfegruppe
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