Koordination und Modulation der Motivationen

Motivationen bestimmen also, wie die Beispiele der vorigen Seite zeigen, unsere Aktivität. Was dort geschildert wurde, ist aber nur die Grundlage. Wie der Mensch wirklich reagiert, hängt von vielen zusätzlichen Faktoren ab, die modifizierend eingreifen können. Wichtige derartige Mechanismen sind (überwiegend?) angeboren und daher typisch für den individuellen Menschen. Man kann sie unter dem Begriff “Temperamente” zusammenfassen, wie gleich besprochen werden soll. Zusätzlich wird gezeigt werden, dass sehr viele das Handeln letztlich bestimmende Faktoren wie die “Motive und Einstellungen” erworben sind. Zuvor möchte ich aber einige Grundlagen besprechen, die deutlich machen sollen, dass derartige Modulationen in der Struktur des Gehirns vorgesehen sind.

Das Gehirn wird oft mit einem Computer verglichen. Der Vergleich ist in mancher Hinsicht zulässig, zum Beispiel in der Organisation der Funktionen oder der allgemeinen Informationsverarbeitung. Aber in Grundfunktionen, also der Verarbeitung einer einzelnen Information, gibt  gravierende Unterschiede. Einer davon ist, dass es nicht einen oder wenige Prozessoren im Gehirn gibt, sondern 100 Milliarden zwar kleine, aber doch sehr effiziente.Jede Nervenzelle ist eine Art Prozessor. Sie arbeiten parallel und erreichen daher trotz der relativ langsamen chemischen Prozesse  im Gesamtablauf eine sehr hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit. Die hohe Effizienz beruht darauf, dass die Nervenzelle nur auf der Ausgabeseite digital arbeitet, also eine Eins oder sonst nichts aussendet. Die Eins entsteht elektrisch beim Zusammenbrechen des Aktionspotentials,

Der Input, also der Eingang von Informationen in die Zelle geschieht biochemisch. Im Synapsenspalt sind Botenstoffe in variabler Menge vorhanden, die an Rezeptoren in unterschiedlicher Anzahl andocken können. Wiederum biochemisch in variabler Stärke und auf verschiedenen Signalwegen wird der Reiz innerhalb der Zelle weitergeleitet und wirkt unter anderem auf Ionenkanäle und Ionenpumpen. Wichtig auf diesen Übertragungswegen ist die jeweilige Wirkstoffmenge.  Die Wege können mit fördernder oder hemmender Wirkung ausgelegt sein. Große gleitende Variationen sind möglich, die Nachricht wird damit analog verarbeitet.

Es gibt eine erstaunliche Zahl von Eiweißen in den Nervenzellen, deren Funktion man noch nicht kennt. Wichtiger ist aber die Tatsache, dass die meisten Nervenzellen über ihre weit verbreiteten Dendriten und die zahlreichen darauf verteilten Synapsen die Signale von sehr vielen anderen Zellen aufnehmen können, und zwar auf diesem analogen Weg. Man hat gefunden, dass eine Zelle mit bis zu 10.000 anderen Zellen verbunden sein kann. Die vielen eintreffenden Signale können fördernd oder hemmend sein. Sie werden auf ihrem Weg durch die Zelle irgendwie integriert, bis schließlich wieder das eine Aktionspotential aufgebaut ist und zusammenbrechen kann.

Man kann sich vorstellen, dass schon beim Weitergeben von Informationen über nur eine einzige Zwischenstation eine große Zahl von Einflüssen auf das Ursprungssignal wirksam werden kann. Das ursprüngliche Signal kann moduliert werden. Über die Modulation der Motivationen, von denen in der vorhergehenden Seite die Rede war, soll jetzt diskutiert werden. Ich werde sie nicht auf der bis hierher geschilderten biochemischen oder neurologischen Ebene besprechen, obgleich man auch da schon viele Einzelheiten kennt. Ich wollen nur verständlich machen, dass es damit auch für Netzwerke des Gehirns kein Problem ist, die Wirkung vieler psychologischer Einflüsse zu integrieren.

Anlässlich der Besprechung der angeborenen Bedürfnisse als gerichtete Motivationen habe ich schon diskutiert, dass es dort Auslösemechenismen gibt, die vermutlich wie ein Sollwert funktionieren, und dass dieser Sollwert von verschiedenen Einflüssen modifiziert werden kann. Dort sind einige benannt. Unter diesen Einflüssen sind auch die Temperamente aufgeführt.

 

 

2. Die Temperamente sind übergeordnete Modulatoren

Über Temperamente hat schon Hippokrates nachgedacht. Seine Vorstellung von vier Grundtypen (sanguinisch, cholerisch, melancholisch und phlegmatisch) wurde bis in die Neuzeit hinein als Basis von Theorien für menschliches Verhalten verwendet, war aber immer schwerer in moderne psychologische Systeme einzupassen. Sie wurden häufig als Varianten von Stimmungen aufgefasst, galten für viele sogar als der angeborene Anteil der Stimmung, hatten den Status von vererbten Charaktermerkmalen.

Eine Feststellung allerdings scheint mir bedeutsam: Das Indivieuum muss nicht zwingend immer und nicht ständig in dieser typischen Variante agieren. Es scheint daher zielführend, diese “Eigenarten” der Persönlichkeit nicht als statische Bezeichnung zu werten, sondern als dynamische Faktoren, die agierenden Programmen des handelnden Individuums einen bestimmten Stempel mehr oder weniger deutlich aufdrücken, die also im aktuellen Geschehen mitwirken. Deshalb werden sie hier als Modifikatoren im Motivationssystem besprochen.

In einem solchen Szenario ist dann der Vergleich mit der Beleuchtung eines großen Raumes verständlich, in dem viele Lampen jeweils isoliert hinsichtlich ihrer Helligkeit in gewissen Grenzen einzustellen sind. Es gibt im zentralen Schaltkasten einen übergeordneten Dimmer, der alle diese Lampen zugleich etwas heller oder dunkler regeln kann. Es gibt andere, die sogar die Farbe aller Lichter gleichsinnig beeinflussen können. Derartige Modulationsaufgaben könnten nun die Funktionen haben, die man oft als Temperamente zusammenfasst.

In Analogie zu dem was ich über die natürliche Funktion der primären Emotionen gesagt habe, haben die Temperamente im biologischen System nicht die Funktion, dem Individuum ein gewisses Gefühl zu vermitteln. Das Gefühl ist vermutlich nur ein Epiphänomen. Die genuine Funktion dürfte in der Organisation und Harmonisierung verschiedener Ausdrucks- und Reaktionsmöglichkeiten des Individuums liegen, auch wohl in der Anpassung der Gesamtreaktion an interne und externe Grundbedingungen. Meist unterscheidet man in dieser Hinsicht drei Dimensionen.

Extravertiert - introvertiert

Alle Menschen kann man entlang einer Skala zwischen südländischer Offenheit und Lebensfreude (“extravertiert”) einerseits und eher nordländischem Ernst und Schwermut (introvertiert) andererseits einordnen. Jeder kennt entsprechende typische Beispiele. Das jeweilige charakteristische Verhalten ist angeboren. Es kann aber gemäß der Anforderungen der Umgebung oder im Rahmen des aktuellen eigenen Befindens angepasst werden. Die “Stimmung” als ungerichtet Motivation kann also durchaus hinzukommen.

Keck - schüchtern

Auch zwischen den Extremen keck oder mutig und schüchtern oder vorsichtig kann man eine stufenlose Verbindung ziehen und die Menschen einordnen. Gemäß Erfahrungen mit Hirnstrommessungen handelt es sich um Funktionen, an denen der rechte Stirnhirnbereich beteiligt ist. In der aktuellen empirischen Psychologie wird anstelle der Schüchternheit auch der Neurotizismus eingesetzt, also eher Ängstlichkeit. Neurotizismus ist einer der wichtigen Komplexe im Rahmen der lexikalisch bestimmten “Big Five” Parameter der Persönlichkeit. Im Zusammenhang mit dem Burnout ist diese Persönlichkeitsvariante insofern wichtig, als Ängstlichkeit viel mit vermindertem Selbstwertgefühl zu tun hat.  Bei Kindern konnte man die Ängstlichkeit durch konsequentes Training von Erfolgserlebnissen erheblich reduzieren.

Stabil - labil

Diese Verhaltensstrategie überschneidet sich teilweise mit den anderen. Sie verdient aber besonderes Interesse, weil man hier die Unbeirrbarkeit bzw. die Willensstärke einordnen kann, also eine sehr wichtige Persönlichkeitskomponente. Willensstärke spielt eine wichtige Rolle bei der Umsetzung von Entscheidungen.

Optimismus - Pessimismus

Es gibt Hinweise, dass es sich bei dieser üblichen Gegenüberstellung zweier Verhaltensweisen nicht um die Extrempositionen einer einzigen Variablen, sondern um zwei gesonderte, wenn auch verwandte Funktionen handelt. Optimisten erweisen sich als erfolgsorientiert. Sie streben also prinzipiell nach Erfolg. Demgegenüber bezeichnet man Pessimisten als misserfolgsorientiert und drückt damit aus, dass sie Misserfolge zu vermeiden versuchen. Das ist auch ein aktives Bemühen, aber tendenziell in anderer Hinsicht.

Optimisten sind entsprechend ihrer Grundeinstellung nachweislich erfolgreicher als Pessimisten. Das beruht nicht nur auf dem direkten Streben nach Erfolg, sondern auch auf dem Umgang mit eventuellen Misserfolgen: Sie beschäftigen sich dann eher mit den eigenen Fehlern, während der Pessimist geneigt ist, die Ursachen seiner eigenen Misserfolge bei anderen oder bei ungünstigen äußeren Umständen zu suchen. Optimisten sind auch fröhlichere und deshalb beliebtere Menschen, weil sie sich ihren angestrebten Erfolg schon im voraus vorstellen und sich darauf freuen. Das kann unrealistisch sein und zu Enttäuschungen führen. Das Extrem in dieser Hinsicht ist der Illusionist.

Den Pessimismus kann man als natürliche Bremse für den Optimisten auffassen. Bei ihm mag er die Selbstkritik stärken, die beim Pessimisten zu stark ausgeprägt ist.

Durch die angegebenen Mechanismen besteht eine mehrdimensionale Variationsmöglichkeit für die Aktivität der Persönlichkeit, und zwar sowohl angeboren als auch reaktiv.

 

3. Motive und Einstellungen

 

Eindeutig erworben, also gelehrt und gelernt sind Vorgaben für unser Handeln, die die Gesellschaft macht, um ein gedeihliches Miteinander zu ermöglichen. Hierzu zählen vielerlei Regeln zum Beispiel zur Hygiene oder zum Verhalten beim Treffen von Menchen in kleinen, intimen oder in großen anonymen Gruppen, also Regeln des Anstands oder sonstiger Konventionen. Alte Traditionen einerseits und aktuelle Moden andererseits gehören dazu.

Diese Regeln werden gelehrt, schon das Kind soll sie lernen. Man lernt ihre Bedeutung und Rechtfertigung im Umgang mit ihnen, bildet also auch eigene Erfahrungen. Gelehrtes und Gelerntes werden in den Gedächnisspeichern abgelegt und im Laufe der Zeit zu persönlichen Einstellungen integriert. Diese Einstellungen werden natürlich auch mit emotiomalen Markern versehen. Man weiß also, was man mehr, was man weniger mag oder schätzt oder für wichtig hält.

Einstellungen hat man nun auch, und das ist mir wichtig, zu allen wichtigen gesellschaftlichen Regeln, die man als moralisch oder ethisch bezeichnet. Dazu gehört die Aufrichtigkeit und die Ehrlichkeit, aber auch Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Pflichtbewusstsein. Davon sind allenfalls gewisse Grundfähigkeiten angeboren. Ansonsten müssen sie alle gelehrt werden, und zwar gründlich in meist langwierigem Bemühen. Eine für die Gesellschaft und speziell auch die Strafjustiz bedeutsame Sonderform ist das Verantwortungsgefühl.

 

Die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit des Hundes wird immer gelobt. Aber er ist es, weil er nicht abstrakt (hinterhältig) denken und planen kann. Deswegen ist er der beste Freund des Menschen, der seinerseits diese Fähigkeiten oft ohne Srukpel zum eigenen Vorteil nutzt.

Ergänzung

Angeborene Bedürfnisse  nach Murray 1943 und Edwards 1959

So verwendet als Arbeitsmaterial.

 Welche sind bei mir ausgeprägt? (Unterstreichen!)

 Welche davon sollte ich nützen, welche meiden? (farbig markieren!)

 


Im Folgenden wird Verschiedenes besprochen:

1. Die Arbeitsweise der Gehirns ist teils analog, teils digital

2. Die Temperamente sind übergeordnete Modulatoren

3. Motive sind rational und erworben

1. Die Hirnzelle wandelt viele analoge Signale in ein digitales um:

Hier fehlt noch einiges. Ich schreibe bald weiter!

Weiter unter auf dieser Seite habe ich eine viel verwendete

wiedergegeben, und schließlich als Ergänzung zum Thema Temperamente:

Ergänzung

Schüchternheit ist in der modernen Gesellschaft meist ein erheblicher Wettbewerbsnachteil. Da das Temperament grundsätzlich angeboren ist, kann man es nicht direkt durch Schulungen beeinflussen. Aber da es das Verhalten variabel an die Erfordernisse des Augenblicks anpasst, kann man Anpassungsstrategien trainieren. Dazu gehört das Selbstbewusstsein auf der Basis von Erfolgserlebnissen. Wer weiß, dass er Vieles kann. lässt sich nicht so leicht einschüchtern.

Im Altertum und Mittelalter waren die Temperamente ein interessantes Thema, wenn man die Menschen charakterisieren und die Unterschiede zwischen ihnen herausstellen wollte. Man unterschied zwischen Cholerikern, Sanguinikern, Melancholikern und Phlegmatikern. Diese Bezeichnungen sind als – weitgehend angeborene – Verhaltensstile bis in die Neuzeit beibehalten worden. Heute versucht man, diese Einteilungen nach Merkmalen wie Aktivität, Reaktivität, Emotionalität und Soziabilität zu vervollkommnen.

Man kann die Temperamente aber auch (moderner) als übergeordnete Regulationsfunktionen für Psychomechanismen wie Gefühle, Stimmungen oder Motivationen auffassen. Es sind angeborene Anlagen, die ganz wesentlich das prägen, was man Persönlichkeit nennt. Sie überwachen das Verhalten in Abhängigkeit von aktuellen inneren und äußeren Einflüssen. Man hat sie verglichen mit einer generellen Schaltfunktion für die Lampen eines großen Raumes: Jede Lichtquelle kann man zwar gesondert bedienen, aber die Zentrale kann alle zusammen mehr oder weniger dimmen oder auf größte Helligkeit einstellen. Die Temperamente sorgen gemäß dieser Theorie also dafür, dass die vielerlei Ausdrucks- und Reaktionsmöglichkeiten des Gehirns harmonisiert werden, dass sie also alle zusammen einigermaßen einheitlich ablaufen, gemeinsam ein aktuelles Ziel anstreben.

Es gibt wenigstens drei Dimensionen des Temperaments

Bald zeigte sich aber, dass auch dieses Modell in der Realität Schwierigkeiten macht. Es ergeben sich wenigstens drei Ebenen der Regulierung von Persönlichkeitsmerkmalen. Da ist zunächst die Ebene zwischen den Extremen "extravertiert" und "introvertiert". Das Individuum kann man im Vergleich mit den Mitmenschen auf einer Skala einordnen, die beispielsweise von südländischer Offenheit und Lebensfreude bis zu nordländischem Ernst oder gar Schwermut reichen kann. Im Rahmen der individuellen Tagesform kann eine Person ihr Verhalten ebenfalls in gewissen Grenzen zwischen den beiden Eckpunkten verändern. Angeboren ist offenbar nur die typische Stimmungslage, die dann Variationsmöglichkeiten gewährt.

Eine zweite Dimension kann man zwischen den Extremen "keck" und "schüchtern" anordnen. Einer der Befunde aus Untersuchungen über diese Ebene ist für unser Thema interessant: Man kann aus dem Hirnstrombild von Kleinkindern schon vor Vollendung des ersten Lebensjahres ablesen, ob das Kind später schüchtern sein wird. Und schon im Untersuchungsraum konnte der Untersucher voraussagen, ob das Kind schreien würde, wenn die Mutter kurz den Raum verlässt. Auch diese Temperamentslage ist angeboren. Schüchterne Menschen haben in unserer Zivilisation Nachteile. Aber man hat zeigen können, dass man die Schüchternheit überspielen kann. In einem konsequenten Programm mit vielen Einzelaufgaben, deren Schwierigkeitsgrad sich langsam steigerte, der aber immer zu meistern war, hat man in den Kindern viele Erfolgserlebnisse erzeugt und gleichzeitig ihr Wissen und ihre Fertigkeiten deutlich über den Durchschnitt Gleichaltriger gesteigert. Ihr Selbstwertgefühl war bald so hoch, dass die Schüchternheit in den meisten Lebenssituationen als überwunden gelten konnte.

Auch beim Burnout-Betroffenen mag es in manchen Fällen noch möglich sein, das Selbstwertgefühl mit Hilfe von Erfolgserlebnissen wieder aufzubauen. Voraussetzung ist natürlich, dass vorher alle wichtigen Stressoren ausgeschaltet sind. Ein Job- und/oder Ortswechsel ist daher meist zweckmäßig.

Eine dritte Dimension im Bereich der Temperamente hat ebenfalls Konsequenzen für das Burnout-Problem. Gemeint ist die Ebene Optimismus – Pessimismus. Sie fällt allerdings aus dem Schema der bisher geschilderten Temperamente insofern heraus, als Optimismus und Pessimismus nicht die Endpunkte einer linearen Variabilität zu sein scheinen. Wenn jemand immer weniger optimistisch werden würde, würde er nicht schließlich pessimistisch. Es geht bei Optimismus und Pessimismus zwar auch um Lebensgefühle, aber formal auch um zwei verschiedene Konzepte der Zukunftsplanung, während die beiden vorher geschilderten Temperamentsebenen sich mit der Gestaltung des aktuellen Verhaltens befassen und deswegen viel eher als eine Regelung der Stimmungen zu deuten sind.

Optimisten sind erfolgreicher, Pessimisten kritischer

Optimisten bezeichnet man als erfolgsorientiert. Sie streben den Erfolg an und haben auch nachweislich mehr Erfolge als Nicht-Optimisten. Zu den Optimisten dürften viele jener Burnout-Betroffenen zu rechnen sein, bei denen anfangs eine Hyperaktivitäts-Phase aufgefallen war. Optimisten machen Pläne, leben geistig in der Zukunft und sind fröhliche Menschen, weil sie sich schon über die Erfolge freuen, die sie hoffentlich später haben werden. Sie sind aber auch zufriedener als andere, weil sie anlagemäßig jeweils die positiven Aspekte der aktuellen Situation suchen. Sie "denken positiv". Das Extrem ist der Illusionist, der "mit beiden Füßen fest in den Wolken" steht, also ständig Luftschlösser baut – und dann entsprechende Misserfolge einstecken muss. Zu wenig Selbstkritik, die ihnen fehlt, ist offenbar ein Nachteil. Ihnen fehlt eine gesunde Bremse, nämlich (zusätzlich?) ein wenig Pessimismus.

Pessimisten werden charakterisiert als misserfolgsorientiert. Sie versuchen in erster Linie, Misserfolge zu vermeiden. Sie sind folglich immer der Risiken gewahr, die entstehen könnten. Sie sind die typischen "Bedenkenträger" und daher überwiegend ernst bis missmutig. Das Extrem dieser Gruppe ist der Kunktator, der Zauderer, der vor lauter Risikokalkulationen kaum ein Projekt beginnt und natürlich auch nicht so oft Erfolge hat. Aber weil sie zögerlich Gefahren vermeiden, weichen die Pessimisten bis zu einem gewissen Grade auch dem Stress aus.

Man kann den Pessimismus als zentrale Bremsfunktion ansehen: "Warte und überlege noch einmal gründlich!" Vermutlich hat Pessimismus viel mit Selbstkritik zu tun.

Die Leserinnen und Leser werden Schwierigkeiten haben, sich ausschließlich in die eine oder die andere Kategorie einzuordnen. Sie haben in der Vergangenheit mal mehr in die eine, dann mehr in die andere Richtung tendiert, haben mal mehr optimistisch leichtsinnig, mal doch mehr pessimistisch zurückhaltend gehandelt. Offenbar haben wir es mit zwei prinzipiell unterschiedlichen, einander entgegen gerichteten Lenkprinzipien zu tun, von denen das Individuum je nach aktueller Lebensstrategie Gebrauch machen kann, die aber in unterschiedlicher Stärke angelegt sind und entsprechend die Persönlichkeit formen.

So meine ich zum Beispiel, dass ein Chirurg beide Anlagen gut ausgeprägt mitbringen muss: Ohne einigen Optimismus würde er sich nicht entscheiden, eine schwierige und verantwortungsvolle Operation überhaupt zu beginnen. Er muss an den Erfolg glauben und muss ja auch dem Patienten, der das spürt, Mut machen. Aber er muss vor und während seiner Arbeit alle Risiken auszuschließen trachten. Beides muss er grundsätzlich anstreben, also nicht nur, wenn er sich das grade vornimmt. Eine rein verstandesmäßige Handlungsstrategie würde nicht ein Leben lang mit Erfolg durchgehalten werden können.

Beim Burnout-Betroffenen dürfte vor Beginn des Prozesses die optimistische Tendenz häufig im Vordergrund stehen, nämlich in der hyperaktiven Phase. Im Verlauf des Prozesses gewinnen dann aber die Kritik und überhaupt eine pessimistische Einstellung den Vorrang. Schließlich kann Pessimismus zur beherrschenden Überfunktion ausarten. Die Selbstkritik wird strikt negativ und übermächtig.

Die Strategie der Optimisten ist: "positiv denken"

Der Psychologe M. Seligman hat Optimisten vielfach untersucht. Er hat für deren Erkennung Fragebogen ausgearbeitet. Als eines der auffallenden Kriterien fand er, dass Optimisten zwar größere Risiken eingehen mit der typisch optimistischen Einstellung "es wird schon alles gut gehen", und daher nicht selten Misserfolge haben, dass sie damit aber sehr gut fertig werden. Das konnte er nach vielen Untersuchungen dadurch erklären, dass Optimisten sich ganz überwiegend mit denjenigen Ursachen ihrer Misserfolge beschäftigen, die sie selbst zu vertreten haben. Sie lernen dann daraus.

Wer sich dagegen nach seinem Versagen über die Politik und das Wetter oder über die Einflussnahme anderer Menschen Gedanken macht, die nachteilig, aber nicht zu ändern sind, ärgert sich unnötig und vertut nur Zeit. Wer sich dann auch noch in unproduktiven Schuldzuweisungen verstrickt, entwickelt unnötige Aggressionen oder Frustrationen. Sie behindern seinen Gedankenfluss, drücken seine Stimmung und reduzieren seinen Erfolg. Das ist dann nicht nur Temperamentssache.

Beim Burnout findet man ungerechtfertigte Schuldzuweisungen gegen andere als typisches Symptom in der Anfangsphase (Tabelle 3, S.xx). Dann ist oft schon das ganze Weltbild (unrealistisch) pessimistisch geworden.

Selbstkritik muss man nutzen, um besser zu werden

Es geht hier – wohlgemerkt – nur um die eigenen Misserfolge. Optimismus wird dadurch zu einer Frage der positiv tendierenden Selbstkritik.

Allen Gesunden (!) kann man nur raten, sich diese optimismus-gesteuerte Selbstkritik anzugewöhnen. Man muss also den eigenen Fehlern offen ins Auge sehen, weil man daraus am meisten lernen kann.

Alle Schuld des "Schicksals" oder der Mitmenschen ist demgegenüber zweitrangig. – obwohl man daraus ja auch lernen kann.

Dem vom Burnout Betroffenen möchte man eine Strategie wünschen, mit der er leicht über Misserfolge hinwegkommt, ohne sie einfach zu verdrängen. Nun liegt ein gewisses Risiko darin, einem Burnout-Gefährdeten die vorrangige Beschäftigung mit den eigenen Fehlern nahezulegen. Wir hatten ja diskutiert, dass aus seiner Selbstkritik leicht die Selbstzweifel oder Schuldgefühle erwachsen können, die dann sein Selbstwertgefühl erschüttern.

Äußerst wichtig ist also, gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass es bei jeder Selbstkritik darum gehen muss, besser werden zu wollen.

Man muss darlegen, dass die Analyse des eigenen Missgeschicks gezielt angezeigt und sinnvoll ist, um Erfahrung zu sammeln, um sicherer zu werden, letztlich um das Selbstbewusstsein nachhaltig zu stärken. Diese Umdeutung der Situation ist eine allgemein bewährte Taktik des sogenannten problemorientierten Copings, also eine Bewältigungsstrategie, die nun gezielt auf die Selbstzweifel ausgerichtet werden soll.

Übrigens wurde beim Temperament auch eine Achse stabil – labil als vierte Ebene vorgeschlagen. Die Burnout-Betroffenen würden dieser Theorie nach ihre Stabilität verlieren, unsicher werden und aus eigener Kraft nicht zurückfinden. Man kennt zwar eine entsprechende mentale Funktion als Unbeirrbarkeit oder besser als "Willensstärke". Sie spielt eine wichtige Rolle in der Endphase von jedem Entscheidungsprozess: Wenn man eine Entscheidung schließlich gefällt hat, ist man für neue, ablenkende Argumente kaum noch zugänglich, sondern führt den einmal gefassten Entschluss auch konsequent durch. Auch diese Funktion ist beim Burnout gestört. Aber das interessante Phänomen bringt beim Bemühen um Hilfe nicht weiter.

Es ist offensichtlich, dass dem Gefährdeten häufig ein erfahrener Coach zur Seite stehen sollte.

Das Feld der Erfolgs- und Misserfolgsorientierung und der jeweils aufkommenden Kritik und Zweifel ist weit und ist interessant. Es ist aber auch riskant, weil Selbstkritik schwer zu kontrollieren ist. Wir hatten schon betont: Kritik ist offen für Änderungsvorschläge, Skepsis kaum noch. Zweifel sind es dann nicht mehr.

Selbstzweifel sollte der Burnout-Betroffene schriftlich aufarbeiten

Damit komme ich zu einem entscheidenden Abschluss von Erörterungen, die ich in den voraufgegangenen Kapiteln schon zum Thema Selbstkritik angestellt hatte.

Die schriftliche Aufarbeitung, die einen so gewaltigen Erfolg beim psychischen Stress zu erzielen vermag, sollte man dann auch bei der Aufarbeitung von Zweifeln und insbesondere von Selbstzweifeln einsetzen.

Das kann man jeden Tag machen, gegebenenfalls auch anlässlich eines Sanatoriumsaufenthaltes. Man kann den Betroffenen auf sein natürliches Kausalitätsbedürfnis ansetzen. Jeder hat es, und hier könnte man es zur Perfektion treiben. Die Ausarbeitungen würden an Beweiskraft und damit an Wirksamkeit gewinnen.

Die Beschäftigung mit dem Temperament brachte somit einerseits den Hinweis auf die geeignete Strategie bei Misserfolgserlebnissen. Andererseits kann daraus die Warnung vor dem Abgleiten wohlgemeinter Kritik in Selbstzweifel abgeleitet werden. Die Gefahr ergibt sich sowohl für den Optimisten, bei dem ich sie erörterte, wie für den Pessimisten, der von vornherein zu Kritik und Zweifeln neigt.

Im nächsten Kapitel werde ich zunächst noch einmal auf die Möglichkeiten zur Diagnose eines Burnouts hinweisen. Dann sollen allgemeine, etablierte Maßnahmen zur Vorsorge erwähnt werden, ehe ich einige Methoden zur Selbsthilfe im Sinne der Verhaltenstherapie erkläre. Am Schluss des Kapitels werde ich dann einen Überblick über die Möglichkeiten zur Hilfe oder Vorsorge geben, die sich aus dem in diesem Buch Besprochenen ergeben.

 

Und nun mit wenigen Worten noch mal das Wichtigste aus Kapitel 8:

 

8 Optimismus, andere Temperamente und die Selbstkritik

Als zusätzliche Stellungnahme zur Funktion der Temperamente ein Abdruck des 8. Kapitels meines Buches über Burnout.

5. Optimismus und andere Temperamente

Prof. Dr. Wolfgang Seidel, Sindelfingen

Konzepte zur emotionalen Kompetenz

Modulation der Motivation

[Home] [Emotionspsychol.] [andere Themen] [Vorträge aktuell] [Vortrags-Planung] [Meine Bücher] [Literaturempfehlung] [Kontakt]

Stichworte

Viele Stichworte wurden mehrfach behandelt . Zusätzliche Informationen erhält man durch anklicken von “ X”

 

Abwägen

Alter, gefühltes

Angst

Arbeitsspeicher

angeborene Bedürfnisse; X

Automatismen

Begabung

Belohnungszentrum

Berufswahl; X

Bewertungssystem

Bewusstsein

Burnout-Syndrom

Charakter

Depression; X

Determinismus

Egoismus

eigener Wille

Einstellungen; X; X

Emotionen, primäre; X

emotionale Intelligenz

Empathie; X

Empfindungen

Entscheidung

Erfahrung; X

Ethik

Flow

freier Wille

Führungsfehler

g-Faktor

Gefühlsqualität

Gehirnschäden

Gewichtung

Gewissen

Innere Emigration

Intelligenz; X; X

Intelligenz, interpersonale

Körpergefühl

Kompetenz, X; X

Kommunikation

Lebensqualität

Marshmallow-Test

Menschenkenntnis

Motivation, gerichtete

multiple Intelligenz

Optimismus

Persönlichkeit

Reflex

Selbstbeherrschung; X

Selbstkritik

Selbstwertgefühl

Soziale Kompetenz; X

Soziopsychologie

soziale Stile

Spiegelzellen

Stimmung; X; X

Stress

Subjektivität, X

Sympathie

Teamfähigkeit; X

Temperament

Verantwortung; X; X

Weltbild, inneres

Willensbildung

Wohlbefinden

Inhaltsverzeichnis

 

Home - Willkommen

 

Emotionspsychologie

   Emotionen

      emotionale Intelligenz

   emot. Kompetenz

      Referat zur Kompetenz

   Motivationen

      Modulation

      Charakter

 

Psychologie-Themen

   Intelligenz

 

Vorträge aktuell

   Burnout

      Bo.Info

   Lebensqualität

   Chancen durch Emotionen

   Team und Führung

   Freiheit wozu

   freier Wille

   Intelligenz

   Lehrerseminar

   Personalentwicklung

   medizinische Berufe

      Empfehlung

   Sozialpädagogik

 

Vortrags-Planung

   Das richtige Programm

 

Meine Bücher

    Der Ratgeber

      Inhaltsangabe

      Pressespiegel

   Krankenhaus

      Vorwort

      Schlussbetrachtung

   ethisches Gehirn

      Leseprobe

     Strafjustiz

   Burnout

      Schlusskapitel

     Burnout Leseproben

 

Literaturempfehlung

 

Kontakt

   Impressum

Leider hat es Probleme mit der Navigationsleiste meiner Site gegeben. In der linken Spalte im Anschluss an diesen Hinweis finden Sie daher immer ein Inhaltsverzeichnis der Homepage, von dem aus Sie alle Seiten durch Anklicken ebenfalls aufrufen können.